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01 - Am Anfang
Der reformierte Blick auf die Bilder. Gedanken zu einer theologischen Ästhetik. von Andreas Mertin. Teil I
Der reformierte Blick auf die Bilder setzt 40.000 Jahre vor unserer Zeit ein. Er blickt in eine Höhle irgendwo im Norden Spaniens oder im Süden Frankreichs – wo genau, da streiten die Experten noch. Der Mensch der damaligen Zeit ist noch sehr stark der Natur ausgeliefert, aber er hat schon einiges gelernt. Er verfügt über die Fähigkeit, Feuer zu kontrollieren, Werkzeuge anzufertigen und natürlich zu gebrauchen, er kann sprechen – auch wenn es bis zur Vervollkommnung der Sprache noch 20.000 Jahre dauern wird. Der Mensch dieser Zeit verfügt bereits über einen rudimentären Totenkult – zwar werden nicht alle Angehörigen seiner Gruppe beerdigt, aber doch einige Ausgewählte. Und er verfügt über die Fähigkeit, sein Leben zu verschönern, er schmückt die Werkzeuge, mit denen er arbeitet und die Wohnwelt, in der er lebt.
Es ist quasi jener Moment, in dem der Mensch beginnt, sich die Erde untertan zu machen. Dieser Mensch, unser Vorfahr, ist nicht das einzige menschliche Wesen zu jener Zeit. In ganz Südeuropa lebt schon seit Jahrtausenden eine andere Linie, die wir heute nach ihrem ersten Fundort die Neandertaler nennen. Sie ist sozusagen die robustere Variante, auch sie verfügt über all die gerade benannten kulturellen Fähigkeiten des Werkzeuggebrauchs, des Schmucks und des Totenkultes.
Wenn wir heute diese beiden Menschengruppen unterscheiden können, dann nicht nur an ihren Genen, sondern vor allem an ihrer unterschiedlichen Haltung zum Bild, denn der Neandertaler hatte das Bild noch nicht erfunden. Dagegen entwickelt der Homo sapiens vor 40.000 Jahren die Fähigkeit, sich die Welt durch Bilder zu vergegenwärtigen.
Wo immer wir ihm begegnen, ob in der Castillo-Höhle oder der Höhle von Altamira in Nordspanien, ob in der Höhle von Chauvet im Tal der Ardeche in Südfrankreich, stoßen wir auf erstaunlich realistische Malereien – so realistisch, dass man bei ihren Erkundungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts oft glaubte, es handele sich um moderne Fälschungen. Aber es handelte sich um Originale. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit konnten die bisher mit dem Überleben ringenden Menschen einige aus ihrer Gruppe freisetzen, um die Welt, in der sie lebten, im Bild festzuhalten.
Wir wissen nicht, warum sie das taten; jedenfalls nicht aus Gründen des Jagdzaubers, nicht um gefährliche Tiere zu bannen. Auch nicht, um ihre Wohnwelt zu verschönern, denn die Mehrzahl dieser Bilder findet sich tief im Höhlensystem verborgen, weit jenseits des Wohnbereichs. Vielleicht taten sie es einfach, weil sie es konnten, weil sie die ersten wirklich Freigelassenen der Schöpfung waren. Vielleicht wollten sie, da sie zum ersten Mal ein Bewusstsein von späteren Generationen entwickelten, diesen Nachkommen bewusst etwas hinterlassen. Dann wären sie die ersten Kulturträger. Am Anfang des Menschen stand jedenfalls das Bild.
Löwen aus der Höhle von Chauvet © HTO / Wikicommons
In späteren Zeiten haben Erwachsene, so können wir es aus Spuren in der Höhle von Chauvet rekonstruieren, die Heranwachsenden in diesen bemalten Teil ihrer Höhlenwelt geführt, um ihnen anhand dieser Bilder die Sichtweisen ihrer Vorfahren vor Augen zu führen. Wie sie den Berglöwen kurz vor dem Sprung festgehalten haben, den Bison in all seiner Mächtigkeit und Erhabenheit, das Nashorn im Kampf mit anderen Tieren. Wie sie nach und nach auch die Jagd abgebildet haben und viel später die Schamanen ihrer Gruppe. Aber das kommt erst nach 20.000 Jahren der Entwicklung der Höhlenbildmalerei.
Der Theologe Karl Barth hat einmal geschrieben, die Kultur sei „die dem Menschen ursprünglich gegebene Verheißung dessen, was er werden soll“*. Die Höhlenmalerei in der Zeit zwischen 40.000 und 20.000 Jahren vor heute führt uns vor Augen, wie das vor sich geht, wie der der Natur unterworfene Mensch in den Kulturkontext eintritt, sich ein Bild der Welt verschafft. Und dieses Bild ist am Anfang der Menschheit schon so ausdrucksstark, dass Pablo Picasso beim Besuch der Höhle von Lascaux gesagt haben soll: „Wir haben seitdem nichts dazugelernt“.
Was immer die reformierte Sicht auf die Bilder zu den Entwicklungen der folgenden Jahrtausende der Bild- und Kunstgeschichte noch zu sagen haben wird, am Anfang steht die Erkenntnis: Bilder machten uns zu Menschen. Und diese Bilder dienten nicht der Religion, sie waren nicht Illustrationen eines wie auch immer gearteten Glaubens, sondern bildeten eine eigene Welt neben der anderen, höchst realen Welt. Und diese künstliche Welt nahm Teil an der kulturellen Entwicklung unserer Vorfahren, die uns zu dem machte, was wir sind.
*Karl Barth, „Die Kirche und die Kultur“ (1926), in: ders., Die Theologie und die Kirche. Ges. Aufsätze, Bd. 2, München 1928, S. 368 (auch in der Karl Barth-Gesamtausgabe: Vorträge und kleinere Arbeiten 1925-1930 (GA III.24).
Andreas Mertin
Von Ulrich Zwingli, Johannes Calvin und Karl Barth geschult wirft Andreas Mertin einen reformierten Blick auf die Kunst von ihrem Anfang in steinzeitlichen Höhlen bis zur Gegenwart. Der Medienpädagoge und Ausstellungskurator nimmt das Bilderverbot als Kultbilderverbot ernst. Das zweite Gebot sei jedoch kein Kunstverbot.
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