THEOLOGIE VON A BIS Z
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Das Grundproblem des sündigen Menschen
Der Ansatz der Ethik im Heidelberger Katechismus
1. Die Begründung des Handelns in der Dankbarkeit
2. Die ethische Relevanz der Entfremdung von Gott
3. Die Freude des Handelns
4. Konkrete Ethik als Gebotsauslegung
1. Die Begründung des Handelns in der Dankbarkeit
Drei Dinge müsse der Mensch wissen, damit er in Christus als seinem einzigen Trost selig leben und sterben könne: erstens wie groß seine Sünde und sein Elend sei, zweitens wie er von allen seinen Sünden und seinem Elend erlöst werde, drittens wie er Gott für solche Erlösung dankbar sein solle (Fr. 2).
Die zweite Frage, die den Aufbau des Katechismus erläutern möchte und mit Elend, Erlösung und Dankbarkeit die drei zentralen Hauptthemen des Katechismus plaziert, kann sowohl in dogmatischer wie in ethischer Blickrichtung gelesen werden. Lesen wir sie in dogmatischer Blickrichtung, dann fällt sogleich die soteriologische Struktur des Katechismus auf: Es geht um den einzigen Trost, es geht um die Erkenntnis unseres Elends (also primär um die Hamartiologie), es geht um die Erlösung aus diesem Elend (also um Christologie und Rechtfertigung), und es geht um die Dankbarkeit (also um die Antwort des erlösten Menschen und damit um seine Heiligung und sein Glaubensleben).
Es zeichnet gute theologische Texte aus, dass wir sie immer auch in ethischer Blickrichtung lesen können – nicht um sie ethisch zu vereinnahmen oder gar in ethischer Richtung zu verengen, sondern um zu erfahren, welches Licht sie auf das menschliche Handeln werfen. Bekanntlich kann man Dogmatik und Ethik nicht voneinander trennen, tut man es doch, dann entsteht eine Dogmatik ohne Relevanz für das konkret gelebte Leben und eine um ihre theologischen Gehalte beraubte und damit dogmatisch entkernte Ethik. Der HK gehört auf alle Fälle zu der Gattung Texte, die das beherzigen, wie denn überhaupt die Texte reformatorischer Theologie immer in beiderlei Perspektive gelesen werden können.
Lesen wir Frage 2 nun in ethischer Blickrichtung, so geht es natürlich auch hier um den einzigen Trost – diesmal in der Situation des Handelns. Da kommt unser Elend erst recht zum Vorschein. Es besteht darin, dass wir handeln sollen, ja handeln müssen, aber nicht handeln können und andauernd im Handeln scheitern und das Rechte, das wir tun sollen, verfehlen. Der dafür entscheidende Grund liegt nach Auffassung des HK in unserer Entfremdung von Gott und der damit gegebenen Unfähigkeit, seine Gebote zu halten. Unser Elend kommt faktisch als ethisches Scheitern in die menschliche Erfahrung.
Die Erlösung aus diesem Elend besteht darin, dass wir durch Christi Kreuz und Auferstehung und die uns dadurch zuteilwerdende Rechtfertigung aus diesem Teufelskreis herausgeholt werden. Das heißt: Menschen, die nicht handeln können und das Rechte verfehlen, werden durch das Christusgeschehen in die Lage versetzt, sich dem rechten Tun zumindest anzunähern und die Gebote Gottes wenigstens als Maßstab der eigenen Lebensführung zu achten und nach ihnen allen zu leben anzufangen (vgl. HK 114). Die Grundhaltung, in der das geschieht, ist die Dankbarkeit. Der um Christi willen getröstete Mensch ist ein dankbarer Mensch, der wie es am Ende der Antwort auf Frage 1 heißt, von Jesus Christus „von Herzen willig und bereit“ gemacht wird, „ihm forthin zu leben“. Wir bemerken, dass das Ethos des Christenmenschen bereits in der allerersten Frage des HK intoniert wird.
Dankbarkeit bezieht sich immer auf ein konkretes Gegenüber. Wir sind, wenn wir dankbar sind, jemandem dankbar. Dieser andere hat etwas für uns getan. Darauf sagen wir danke und bekunden unsere Dankbarkeit. So bedeutet Dank Echo und Antwort. Im Dank antworten wir auf ein uns zuteil gewordenes Gutes, auf eine uns erwiesene Wohltat, auf ein Geschenk. Oft, sehr oft ist das sogar ein ganz unverdientes Gutes, etwas Gutes, das uns höchst unerwartet und überraschend zugewendet wurde. Ganz unverdient ist das, was Gott uns zuwendet – „ganz ohne mein Verdienst aus lauter Gnade“ schenkt er mir „die vollkommene Genugtuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi“ (Fr. 60).
Das dankbare Echo des so von Gott beschenkten Menschen entfaltet sich im HK in zwei Richtungen. Einmal entfaltet es sich als Befreiung zum Handeln und Befähigung zu den guten Werken – zu einem freudigen Leben im Horizont der Gebote Gottes (Fr. 86-113). Der von Gott beschenkte Mensch antwortet auf die ihm erwiesenen Wohltaten, indem er aus freien Stücken, also zwanglos und ohne Krampf, „Lust zu aller Gerechtigkeit“ (Fr. 113) hat. Zum anderen entfaltet sich das dankbare Echo im Gebet – in Bitte und Dank (Fr. 116-129). Auch wenn das Thema „Dankbarkeit“ im dritten Teil des Katechismus zunächst direkt ethisch angegangen wird, darf doch nicht der geringste Zweifel daran aufkommen, dass das Gebet dem Handeln des Christen vorgeordnet ist.
Das Gebet ist das „vornehmste Stück“[1] oder – in der aktuellen deutschen Fassung des Textes – „die wichtigste Gestalt der Dankbarkeit“ (HK 116). Der von Gott beschenkte Mensch entspricht dem, was Gott an ihm tat, tut und tun wird, am besten im Gebet. Denn Gott will „seine Gnade und seinen Heiligen Geist nur denen geben …, die ihn herzlich und unaufhörlich darum bitten und ihm dafür danken“ (Fr. 116).
Auch vom Gebet gilt, das man es sowohl in dogmatischer wie in ethischer Perspektive betrachten kann. Es gibt gute Gründe dafür, das Gebet auch als ethisches Thema zu behandeln. Denn nirgendwo kommen die alltägliche Lebenswelt des Menschen und das Handeln Gottes so dicht zusammen wie im Gebet. Eine der wichtigsten Partien zur Lehre vom Gebet von Karl Barth findet sich in der speziellen Ethik der Kirchlichen Dogmatik[2]. Die ethische Relevanz der Lehre vom Gebet übersehen wir nur deshalb, weil wir heutzutage von lauter Ethiken umgeben sind, in denen das Beten als Aktivität und Handlung des Menschen nicht vorkommt. Das Beten ist ja insofern ein Tun, als ich mir wenigstens Zeit dafür nehmen, wenigstens die Hände falten und Gott anrufen muss. Erst recht wird sich die Haltung, die ich im Beten einnehme, auf alles auswirken, was ich tue. Insofern ist das Beten von höchstem ethischen Gewicht für das Handeln des Menschen.
Christliche Ethiken, die das übersehen oder vielleicht sogar Alternativen zwischen Handeln und Beten konstruieren, sind arm dran. Wenn wir uns die Vaterunserauslegung des HK näher anschauen, werden wir feststellen, was die Ethik gewinnt, wenn sie sich der Weite und Tiefe des Herrengebets aussetzt. Auch und gerade in der Interpretation der einzelnen Vaterunserbitten öffnen sich neue Lebenshorizonte
Das sittliche Handeln des Christen erwächst de facto aus einer lebendigen Gesprächsbeziehung zu Gott. Der HK ist weit davon entfernt, sich einen autonomen, ganz auf sich selbst und seine Subjektivität gestellten Menschen vorzustellen. Diesen Menschen betrachtet er als eine Fiktion. Diesen Menschen gibt es nur als Missverständnis seiner selbst. Der ethische Ansatz des Katechismus ist darin ein zutiefst theo-logischer, als der Mensch grundsätzlich aus der Beziehung heraus betrachtet wird, die er zu Gott hat oder auch nicht hat, und die Gott zu ihm hat, und zwar auch dann zu ihm hat, wenn der Mensch seinerseits Gott den Rücken kehrt. Die Interaktion und auch die Nicht-Interaktion der Gottesbeziehung bestimmen ständig und immer den ethischen Ansatz des Katechismus.
In dieser andauernden Wahrung der Präsenz der Gottesbeziehung beim menschlichen Handeln unterscheidet sich der HK von allen philosophischen Ethikkonzepten, aber auch von nicht wenigen theologischen Ethikkonzepten. In jedem Fall ist der HK in der beharrlichen Vergegenwärtigung der Gottesbeziehung durch und durch ein reformatorischer Text und reiht sich darin ganz vorzüglich in die reformatorische Theologie ein. Die reformatorische Theologie wollte die Gottesvergesslichkeit der vorreformatorischen theologischen Ethik überwinden, indem sie alles, aber auch wirklich alles, was Menschen tun oder lassen, auf die bedingungslose Gnade Gottes gründete.
Jene Gottesvergesslichkeit kam darin zum Ausdruck, dass an entscheidenden Stellen die Fähigkeit des Menschen zum Handeln höher bewertet wurde als sein Angewiesensein auf Gottes Gnade. Der Mensch musste zeigen, was in ihm steckte, damit Gott sich ihm in seiner Barmherzigkeit zuwenden konnte. Das franziskanische „facere, quod in se est“ („aktiv zur Entfaltung bringen, was in einem steckt“), mit welchem sich der Mensch der Gnade Gottes aktiv entgegenbewegt, wurde von den Reformatoren als Wurzel aller Werkgerechtigkeit betrachtet. „Homo putans, se ad gratiam uelle peruenire faciendo quod in se est, peccatum addit peccato, ut duplo reus fiat“, so heißt es apodiktisch in Luthers These 16 der Heidelberger Disputation[3].
Die philosophische Ethik unseres Kulturkreises hat den Menschen in der Regel als exklusiv tätiges Subjekt des Handelns betrachtet und den Gottesbezug des Handelnden aus ihren Betrachtungen ausgeblendet. Man kann ihr das kaum vorwerfen, denn eine andere Betrachtungsweise würde aus ihrer Sicht gegen die Rationalität des philosophischen Verfahrens verstoßen. Als höchste Stufe menschlicher Handlungsorientierung wurde der Begriff der Autonomie entwickelt. Hier erscheint das menschliche Individuum als sein eigener Gesetzgeber. Das Individuum kann überhaupt nur Normen folgen, die es als ein eigener Souverän gesetzt hat. Als Inbegriff solcher Autonomie erschien dem Philosophen Immanuel Kant der Kategorische Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“[4]
Wir können hier nicht darlegen, dass der Gedanke der Autonomie des Handelns in einem wohlverstandenen Sinne auch theologisch diskutabel ist, dann jedenfalls, wenn gezeigt werden kann, dass die göttlichen Gebote keine Fremdbestimmungen menschlichen Handelns sind, sondern sich im Sinne Kants als Maximen des individuellen Wollens herausstellen. Dazu ein prominentes biblisches Beispiel: „… das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein“ (Jer 31,33). Das in das Herz geschriebene Gottesgesetz und damit die innigste Verschränkung des menschlichen und des göttlichen Wollens käme jedenfalls dem Gedanken einer wohlverstandenen Autonomie recht nahe – einer Autonomie, bei der Theonomie und Autonomie ununterscheidbar eins werden.
Solche Erwägung liegt freilich noch nicht explizit im Blick des HK. Vielmehr grenzt sich er sich von der Autonomie des ethischen Subjekts deutlich ab. Das mag auch daran gelegen haben, dass der moderne Aspekt einer wohlverstandenen Autonomie außerhalb seines Gesichtsfelds lag. Gleich in den ersten Sätzen ist davon die Rede, dass „ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir gehöre“ (Fr. 1). Das scheint das ganze Gegenteil von Autonomie als solcher zu sein und ist es auch. Ja, der einzige Trost im Leben und im Sterben beginnt mit der Erkenntnis, dass ich „meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre“ (ebd.). Und weil ich ihm gehöre, macht er mich „von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben“ (ebd.).
Indem er mich aber so bereit macht, kommt es zu jener gerade beobachteten Verschränkung seines Wollens und meines Wollens. Sein Wollen durchdringt mich so intensiv, dass ich sein Wollen gewissermaßen für mein Wollen halten kann. Ich habe kein fremdes Gesetz in meinen Gliedern – das wäre tatsächlich jene Heteronomie, gegen die im Namen der Autonomie zu Recht protestiert wird –, sondern, weil ich ganz ihm gehöre, ist sein Gesetz mein Gesetz. Als neuer Mensch habe ich „herzliche Freude in Gott durch Christus … und Lust und Liebe, nach dem Willen Gottes … zu leben“ (Fr. 90).
Wenn wir einen passenden Ausdruck für diesen Vorgang suchen, so empfiehlt sich der Begriff der Christonomie. Die Ethik des HK ist von der Christonomie des christlichen Handelns geleitet – sie ist eine christonome Ethik. Die Christonomie wird durch Frage 1 in aller Deutlichkeit plaziert. Sie ist das markante Vorzeichen alles dessen, was im Katechismus über das christliche Leben und Handeln dargelegt wird. Und so wird auch die das Kapitel „Dankbarkeit“ eröffnende Frage und Antwort 86 christonom strukturiert: Wir sollen gute Werke tun, „weil Christus, nachdem er uns mit seinem Blut erkauft hat, uns auch durch seinen Heiligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild, damit wir mit unserem ganzen Leben uns dankbar gegen Gott für seine Wohltat erweisen“ (Fr. 86). Nicht nur das Handeln, auch die Dankbarkeit, aus der das Handeln erwächst, sind hier christonom gedacht.
2. Die ethische Relevanz der Entfremdung von Gott
Eine Ethik, die so stark aus der Gottesbeziehung des Handelnden und der Christonomie des Handelns heraus entworfen wird, wird natürlich auch das ethische Versagen des Menschen von der Gottesbeziehung her in den Blick nehmen. An diesem Punkt ist das Urteil des HK schneidend scharf: Kein Mensch kann so handeln, wie Gott es ihm gebietet und von ihm erwartet. Die Schilderung des menschlichen Elends (Fr. 3-11) geht von der kompletten und totalen moralischen Katastrophe des Menschen aus. Da ist die Forderung des göttlichen Gesetzes, die sich mit Mt 22,37-40 im Doppelgebot der Liebe bündelt: Du sollst Gott lieben und du sollst deinen Nächsten lieben (Fr. 4). Frage und Antwort 5 halten mir dann unerbittlich den Spiegel vors Gesicht:
„Kannst du das alles vollkommen halten?
Nein,
denn ich bin von Natur aus geneigt,
Gott und meinen Nächsten zu hassen.“
Diese Antwort ist häufig als eine Provokation empfunden worden. Wie kann das sein, dass der Mensch von Natur aus zum Hass geneigt ist? Zeigt nicht die Erfahrung auch das Gegenteil, dass nämlich der Mensch überaus anlehnungs- und harmoniebedürftig ist, sich nach Geselligkeit und Gemeinschaft sehnt und unglücklich wird, wenn man ihm dies nimmt oder verweigert?
Die Anthropologie des HK scheint einem Menschenbild aufgesessen zu sein, das dem Menschen nichts Gutes zutraut und die ethischen Möglichkeiten des Menschen pessimistisch unterschätzt. Man möchte fragen, wie eigentlich überhaupt noch Ethik möglich sein kann, wenn derartig schroff über den Menschen geurteilt wird. Es hätte doch ausgereicht, wenn gesagt worden wäre, dass der Mensch nicht richtig lieben kann oder seine Probleme mit der Liebe hat.
Es war kein Wunder, dass der HK im Laufe des 18. Jahrhunderts, in dem die Menschen ihre Hoffnungen auf die Tugendhaftigkeit der natura hominis und die Vervollkommnung der Welt durch Ausbreitung der Tugend gesetzt hatten, ins Gerede kam und dass sich gerade an Frage 5 der Widerspruch gegen den ethischen Ansatz des HK festmachte, auch bei den Reformierten. Aus dem Lippischen Lemgo ist dazu ein im 19. Jahrhundert entstandenes Spottgedicht überliefert, das man auf die Melodie von Nikolaus Beckers Rheinlied gesungen haben soll „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein“:
„Wir wollen ihn nicht haben,
den Heidelberger Kohl!
An ihm soll der sich laben,
dem Schimmel schmecket wohl.
Solang das Licht im Innern,
Bewußtsein und Verstand,
Vernunft und Geist erinnern,
daß wir mit Gott verwandt.
Was einst war gute Speise
In altvergang’ner Zeit,
auf langer Erdenreise
verschimmelt ist es heut.
Vom angebor’nen Bösen
Der Geist zu uns nicht spricht.
Zum Haß geschaff’ne Wesen,
gottlob! das sind wir nicht.“[5]
Dass wir zum Hass geschaffen seien, behauptet freilich auch der HK nicht. Darin irrten die Spötter aus Lemgo. Das genaue Gegenteil ist richtig: „Gott hat den Menschen gut und nach seinem Ebenbild erschaffen, das bedeutet: wahrhaft gerecht und heilig“ (Fr. 6), er hat den Menschen so erschaffen, „daß er es tun konnte“, was Gottes Gebot von ihm fordert (Fr. 9). Andererseits zeigt die Erfahrung, dass sie niemand – auch der erneuerte Christenmensch nicht! – in diesem Leben halten kann (vgl. Fr. 115). Dennoch wird der unverminderte Anspruch der Gebote Gottes aufrechterhalten.
Wir wissen nicht, ob die Lemgoer Spötter die Gebote für erfüllbar hielten. Auf jeden Fall dürften sie die Fähigkeiten des Menschen zum Halten der Gebote gewaltig überschätzt haben, indem sie die klassische Auffassung von der unwiderstehlichen Verkehrung des Menschen durch die Sünde durch die Idee einer unzerstörbaren Gottesverwandtschaft ersetzten. Diese Idee, die auf die griechische Antike zurückgeht, wurde in jenem Zeitalter sehr geschätzt. Sie ist freundlich und setzt eine optimistische Deutung des Menschen hinaus. Die so orientierte Ethik möchte dem Menschen zutrauen, dass er die ihm gesetzten Normen respektiert und sich nach ihnen richtet. Über die Frage, weshalb solche Grundsätze und Normen auch verletzt werden und weshalb in sehr vielen Fällen genau das Gegenteil von dem getan wird, was aus ethischer Sicht richtig wäre, macht sich eine solche Ethik kaum Gedanken.
Erst recht nicht stellt sie sich der Frage, wie es trotz aller Ethik immer wieder zu den Exzessen der Gewalt und des Bösen kommt, die die Menschheitsgeschichte wesentlich tiefer prägen als die guten Beispiele für das rechte, verantwortliche Handeln. Gerade im Rückblick auf das 20. Jahrhundert mit seinen so bedrückenden Fanalen der Unmenschlichkeit und des Todes möchte man fragen, wer denn der Wahrheit näher gekommen ist: die Spötter von Lemgo oder der HK?
Es zeichnet eine problembewusste Ethik aus, dass sie die Widerstände des Menschen gegen das ethisch als sinnvoll Erkannte in ihre Reflexion einbezieht. Die verbale Zustimmung zu ethischen Normen ist etwas anderes als ihre Bewährung in der Praxis. Menschen handeln immer noch anders, als es ihnen ihre sittliche Überzeugung nahelegt. Oft genug merken sie es nicht einmal, dass sie, um einen Gedanken des Apostels Paulus aufzunehmen, immer wieder gerade das tun, was sie genaugenommen hassen: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Röm 7,19; vgl. 7,14-24).
Um zu zeigen, dass sich auch die wache philosophische Ethik diesem Problem zu stellen vermag, möchte ich den in uns liegenden Widerstand gegen die uneingeschränkte Geltung von Normen, die wir an sich als richtig anerkennen, anhand einer Überlegung Kants verdeutlichen. Die Spötter von Lemgo können Kant nicht gelesen haben, denn dieser war weit davon entfernt, den Optimismus zu teilen, der den Menschen unter entsprechenden Randbedingungen in die Lage versetzt sah, einfach einem Grundbedürfnis folgend das Gute zu verwirklichen. Sehr zum Ärger Goethes hatte sich Kant nicht gescheut – fast wie ein neuzeitlicher Augustinus – vom „radikale[n] Bösen in der menschlichen Natur“[6] zu sprechen.
Der Ausdruck „radikal“ ist nicht so dramatisch ambitioniert, wie man zunächst vermuten möchte. Damit erfasste Kant genaugenommen die Wurzel- bzw. Radixhaftigkeit unseres Versagens, eine tief in unserer menschlichen Natur verwurzelte Hemmung gegenüber der uneingeschränkten Realisierung grundlegender sittlicher Normen. Die Äußerungen dieser Hemmung sind nämlich so trivial, so durchschnittlich und so mittelmäßig, dass man Hannah Arendts Weiterführung der Kantschen Rede in die Richtung der „Banalität des Bösen“[7] schon in den Kantschen Konkretionen vorgezeichnet sieht. Wie gesagt fußt Kants Ethik auf dem Fundament des Kategorischen Imperativs: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“[8].
Man kann diesen Imperativ durchaus als eine mustergültige Weiterentwicklung des Gegenseitigkeitsprinzips der Goldenen Regel charakterisieren. Kant meinte jedenfalls, dass es jedem vernünftigen Menschen einleuchten müsse, sein Handeln immer nur an solchen Maximen auszurichten, die jedermann zugemutet werden können.
Aber schon das ist zuviel. Der sich prüfende Mensch ermäßigt in der Situation des Entscheidens und Handelns regelmäßig den unbedingten Anspruch des kategorischen Imperativs. Er relativiert die jeweils durch ihn gebotene Maxime durch andere, lässigere Maximen. Im Kern sind es immer wieder die Maximen der Selbstliebe, denen er in seiner Entscheidungsfindung unzulässig Raum gewährt. Der Mensch (auch der Beste) ist nur dadurch böse, dass er die sittliche Ordnung der Motive (Kant sagte „Triebfedern“) des Handelns verwirrt, indem er im Zweifelsfall immer den bequemeren Motiven der Selbstliebe den Vorrang einräumt. Er puffert gewissermaßen die Zumutungen der ethischen Normen „ich-verträglich“ ab, um die Konflikte zu minimieren, die aus der ethisch gerechtfertigten Entscheidung erwachsen können. Das Böse in seiner Alltäglichkeit und Banalität entsteht durch die stets kompromissbereiten Kalkulationen der Selbstliebe gegen den Sollgehalt einer normativen Vorgabe. So fordert das Sittengesetz die uneingeschränkte Achtung der Wahrheit, kein Mensch kann wollen, dass das Lügen ein allgemeines Gesetz werde[9].
Aber oft fällt es schwer, die Wahrheit auszusprechen, weil sich der Mensch dadurch Nachteile zuzieht. So schweigt er bzw. verdeckt er die Wahrheit – aus Selbstliebe. Damit aber kommt ein Gewöhnungsprozess in Gang, in dem wir uns immer tiefer an die Lüge verlieren, weil das selbstsüchtige Ich mit der Lüge – kurzfristig jedenfalls – mehr Erfolg hat als mit der Wahrheit. „Diese Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen, welche die Gründung ächter moralischer Gesinnung in uns abhält, erweitert sich dann auch äußerlich zur Falschheit und Täuschung anderer, welche, wenn sie nicht Bosheit genannt werden soll, doch wenigstens Nichtswürdigkeit zu heißen verdient ...“[10]
Spätere haben den damit heraufbeschworenen gesamtgesellschaftlichen Zustand der stillschweigend eingeübten Unaufrichtigkeit als „Verblendungszusammenhang“ charakterisieren können (Th. W. Adorno, M. Horkheimer). Der Ursprung solcher und anderer kollektiver Verstrickungsphänomene scheint mir von Kant scharf erfasst worden zu sein: „Der Satz: der Mensch ist böse, kann ... nichts anderes sagen wollen, als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewusst, und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen.“[11]
Wenn es von Vorteil ist, wird er sich gegen das moralische Gesetz entscheiden und dafür auch noch plausible Gründe nominieren. Politiker z.B. wissen, dass Korruption kein Kavaliersdelikt darstellt und geißeln sie in den öffentlichen Reden. Sie wissen auch, dass jeder aufgedeckte Fall von Korruption das Ansehen ihres Standes nachhaltig beschädigt. Und dann gibt es plötzlich so etwas wie eine große Verlockung, einen höchst beachtlichen Vorteil, nicht einmal unmittelbar für sich selber, ganz im Gegenteil: für eine gute Sache. Man wäre doch töricht, wenn man die Chance nicht ergriffe, die sich da plötzlich bietet. Solche und ähnliche Strategien der Selbstentlastung muss man vor Augen haben, wenn man mit Kants Argumentation den Widerständen auf die Spur kommen möchte, die wir gegen evidente Normen in uns entwickeln. Es sind weniger die zielscharfen Vorsätze zur Normverletzung, sondern regelmäßig die Maximen der Ermäßigung, der Bequemlichkeit, des Vorteilskalküls, der Gewöhnung und auch der Eitelkeit, die zu den Widersprüchen zwischen Normbewusstsein und Normpraxis führen und uns zu schaffen machen.
Der HK zeichnet sich dadurch aus, dass er die in uns liegenden Widerstände gegen die ethische Forderung ausdrücklich als Problem der Ethik erfasst. Dass ich „von Natur aus geneigt (propensus) [bin], Gott und meinen Nächsten zu hassen“ (Fr. 7), bedeutet ja nicht, dass ich in jeder Lebenslage vom Hass auf Gott und den Mitmenschen erfüllt bin. Ich bin dazu geneigt, d.h. ich tendiere zum Hass. Diese Neigung ist das Problem. Denn immer dann, wenn es für das Ich vorteilhaft ist, wird es sich gegen Gott und den Nächsten entscheiden – gegen Gottes Gebot und des Mitmenschen Bedarf. Diese andauernde Neigung führt der Katechismus auf die Entfremdung des Menschen von Gott zurück. Darin geht er weit über Kant hinaus, denn von Sünde im theologischen Sinn (und auch von Gnade) wollte Kant nichts wissen, weil er das Kommunikationsverhältnis zwischen Gott und Mensch ausblendete.
Für das Scheitern am Guten ist aus der Blickrichtung des HK die Abwendung von Gott verantwortlich. Das ist eine Lage, der der Mensch unentrinnbar verhaftet ist und aus der er von sich aus nicht herauskommt. Er muss zum Tun des Guten regelrecht befreit werden. Nur dadurch, dass er sich von Gott für das Gute befreien lässt, kommt das Gute in die Welt. Der Mensch muss „durch den Geist Gottes wiedergeboren werden“ (Fr. 8); der alte Mensch muss sterben, damit der neue Mensch auferstehen kann (vgl. Fr.88). Nur so kann der Christ „mit freiem Gewissen in diesem Leben gegen die Sünde und den Teufel streite[n]“ (Fr. 32).
Fazit: Der HK denkt von einem ethischen Ansatz her, bei dem die Realisierungsmöglichkeiten des von Gott geforderten Guten ausdrücklich mitbedacht werden. Die Ethik kann nicht aus Forderungen bestehen, die sich in der Praxis als moralische Illusionen erweisen. Sowohl die Widerstände gegen das geforderte Gute als auch ihre Überwindung liegen im Blickfeld des HK. Dabei lässt er den Menschen mit seinem ethischen Problem nicht allein. Gegen die Kapitulation vor den Mächten des Bösen, der Sünde und des Todes stellt er die geistliche Auferstehung des Menschen in eine neue Existenz und damit seine Befreiung durch Gott zum Guten.
3. Die Freude des Handelns
Im großen und ganzen ist der HK deutlich durch eine nüchterne Tonlage ausgezeichnet. Er neigt nicht zum Enthusiasmus, sondern präsentiert seine Aussagen in einer überaus prägnanten Sachlichkeit. Um so mehr fällt es dann auf, wenn plötzlich das Wort Freude auftaucht, ja wenn sogar von „herzliche[r] Freude [vera laetitia]“ (Fr. 90) die Rede ist. Auferstehung des neuen Menschen heiße nämlich, „herzliche Freude in Gott durch Christus haben und Lust und Liebe, nach dem Willen Gottes in allen guten Werken zu leben“ (ebd.).
Im Zusammenhang mit der Beschreibung des christlichen Lebens taucht das Wort „Freude“ nur an dieser Stelle auf, dazu noch gepaart mit „Lust und Liebe“. Sonst wird von Freude nur gesprochen, wenn die „himmlische Freude und Herrlichkeit“ der eschatologischen Christusgemeinschaft (Fr. 52) bzw. die „ewige Freude“ im ewigen Leben angesprochen wird, deren Anfang ich schon jetzt in meinem Herzen empfinde (Fr. 58).
Freude ist demnach für den HK zuerst ein eschatologischer Sachverhalt, der freilich in diesem irdischen Leben gefühlt und vorweggenommen werden kann. Auch die Auferstehung des neuen Menschen, die in der Antwort auf Frage 90 erläutert wird, ist im Vollsinn ein eschatologisches Thema, aber eben ein solches, bei dem sich die Dimensionen von Zeit und Ewigkeit im Hier und Heute kreuzen. Dem HK war es sehr wichtig, die neue Existenz des Christenmenschen von der Freude geprägt zu sehen.
Für eine Ethik ist das nicht eben selbstverständlich. Fast alle Ethiken, die mir bekannt sind, vermeiden irgendwie das Wort Freude. Im Vordergrund stehen neben mancherlei Imperativen und Sollaussagen der Ernst der sittlichen Forderung, die Meisterung ethischer Konflikte in Verantwortung, das Normbewusstsein oder die Kunst der Lebensführung. Die theologischen Ethiken bilden da kaum eine Ausnahme, auch sie neigen eher zu jenem Ernst, von dem ihr ganzes Problembewusstsein erfüllt wird. Dass man wie hier im HK dem Willen Gottes mit Lust und Liebe folgt und sich herzlich an Gott durch Christus freut, bleibt unausgeführt. Der Grundton der Freude ist freilich für die ethischen Betrachtungen im Umkreis der reformatorischen Theologie charakteristisch.
Das ist kein Wunder. Denn nirgendwo in der Geschichte der Christenheit ist die Befreiung zum Handeln durch das vergebende Wort der Rechtfertigung so stark empfunden worden wie im Zeitalter der Reformation. Was vorher nur aus Krampf und Zwang geschah, geschieht jetzt auf einmal aus einer großen inneren Freiheit. Die „guten Werke“ sind gut, weil sie aus Liebe getan werden. Und was aus Liebe getan wird, „geschieht gern, in Freiheit und aus innerem Antrieb“[12]. Es geschieht nicht, „weil ich ‚muß’, um einer mir auferlegten Pflicht gerecht zu werden und dann das gute Bewußtsein haben zu können: Ich habe mich als Christ bewährt“[13].
Hier muss weder geseufzt noch mit dem Anspruch des Ethischen gehadert werden. Nochmals wird deutlich, dass die Existenz des neuen Menschen nicht als das sich Einfügen in das eigentlich fremde Gesetz der göttlichen Gebote gedeutet werden kann. Luther erkannte die guten Werke immer daran, dass sie „sponte et hilariter“ getan werden[14], und der HK bewegt sich mit seiner freudigen Antwort auf Frage 90 ganz im Klima von Luthers Schrift von der „Freiheit eines Christenmenschen“ oder Luthers Sermon von den guten Werken.
Liebe erfährt die Gebote nicht als etwas von außen Gesetztes, weil sie darin, dass sie sieht, was dem Mitmenschen fehlt, die Gebote erfüllt, ohne die Erfüllung reflektieren zu müssen. Bedürfte es nicht steter Vergewisserung, wie Gottes Gebote in die komplexen Sachbezüge des gesellschaftlichen Zusammenlebens hinein auszulegen sind, könnte man sogar uneingeschränkt die These verfechten „Liebe kennt kein Gebot“, weil sie „sponte et hilariter“ das Richtige zu wählen vermag.
Im seinem Sermon von den guten Werken hat Luther diesen Sachverhalt an einem „handgreiflichen leiblichen Beispiel“ illustriert:
„Wenn ein Mann oder eine Frau vom anderen wissen, daß er sie lieb und von Herzen gern hat, und sie das fest glauben, was braucht es dann, daß sie einer lehrte, was sie tun, lassen, sagen, für sich behalten und denken sollen? Das eine und alleinige Vertrauen zueinander lehrt sie das alles und noch mehr darüber hinaus. Da gibt es für sie keinen Unterschied in den Werken. Sie tun das Große, Lange und Viele ebenso gern wie das Kleine, Kurze und Wenige und umgekehrt. Dazu tun sie es mit einem fröhlichen, friedlichen und zuversichtlichen Herzen und sind ganz freie, gute Gesellen.“[15]
Besser kann nicht veranschaulicht werden, weshalb die Liebe des Gesetzes Erfüllung ist (Röm 13,10). Demgegenüber würde das Ethos selbstbezogener Anständigkeit, das sich heute vielleicht in der Frage verbirgt, wie ich rechtschaffen und verantwortlich handeln kann, eine solche Freude am Handeln nachgerade verhindern. Vielmehr muss kalkuliert und gerechnet werden. Fixiert auf die eigene Moral beginnt der Mensch abzuwägen, was er tun sollte und was er sich auch schenken kann. Er muss ständig überlegen, wie sein Handeln bei den anderen „ankommt“. Er zeigt sich enttäuscht, wenn sein Handeln kein Echo findet und der Dank ausbleibt, auf den er gehofft hatte.
Auch diesen Fall hat Luther im gleichen Zusammenhang beschrieben:
„Wenn aber ein Zweifel aneinander da ist, dann untersuchen sie, wer von ihnen besser sei; da beginnen sie, zwischen den Werken zu unterscheiden und malen sich aus, womit die Zuneigung zu erwerben sei; und es geht dennoch nur schweren Herzens und mit großer Unlust. So sind sie wie gefangen und mehr als halb verzweifelt und werden darüber oft zu Narren.“[16]
Der Theologe Luther erweist sich als ein guter Seelsorger und Psychologe, der scharf erkennt, dass das gegenseitige Aufrechnen das Gegenteil der Liebe ist. Genauso sei es auch beim Christen, „der in diesem Vertrauen zu Gott lebt, der weiß alle Dinge, vermag alle Dinge und wagt sich an alle Dinge, die zu tun sind. Er tut es fröhlich und frei, nicht um viele gute Verdienste und Werke zu sammeln, sondern weil es ihm eine Lust ist, Gott damit zu gefallen. Er dient Gott lauter und umsonst und begnügt sich damit, daß es Gott gefällt.“[17]
Dankbarkeit und Freude sind für den HK die hervorstechenden Merkmale des christlichen Ethos. Das Moment der Dankbarkeit verweist auf die Gottesbeziehung, aus der heraus der mit Gott versöhnte Mensch handelt. Das Moment der Freude verweist auf die Freiheit des christlichen Handelns. Die Freiheit macht sich als Freude bemerkbar, ja man erkennt ihr Vorhandensein daran, dass freudig geglaubt und geliebt wird. Der HK befindet sich hier im uneingeschränkten Konsens mit der reformatorischen Sicht des Verhältnisses von Glauben und Werken.
4. Konkrete Ethik als Gebotsauslegung
Was sind gute Werke? Gute Werke sind allein solche, „die aus wahrem Glauben nach dem Gesetz Gottes ihm zur Ehre geschehen, und nicht solche, die auf unser Gutdünken oder auf Menschengebote gegründet sind“ (Fr. 91). Der HK wählt für das, was wir heute die spezielle Ethik nennen und von allgemeiner Ethik oder ethischer Prinzipienlehre unterscheiden, den Weg der Gebotsauslegung. Gute Werke – der damals bevorzugte Ausdruck für die Taten der Liebe bzw. die produktiven Erfüllungen der Gebote Gottes – geschehen allein in der konzentrierten Ausrichtung auf die Gebote Gottes und ihm zu Ehren. Sie sind nicht auf unser Gutdünken gegründet. Modern gesprochen: Sie sind nicht von unseren Wertungen und Wertsetzungen abhängig.
Auf dem Boden des HK muss man sich entscheiden, ob man ethische Kriterien über Werte und Grundwerte oder über Gebote entwickeln möchte. Die Ethik der Werte wäre aus der Sicht des HK vermutlich eine Ethik des menschlichen Gutdünkens, weil Werte es eo ipso an sich haben, dass sie von Wertungen abhängen, Wertungen aber genau das sind, was in der Sprache des Katechismus das Gutdünken (lat. „quae a nobis opinione recti conficta“[18]) heißt.
Eine am HK geschulte christliche Ethik müsste sich an Geboten, nicht an Werten orientieren. Aber auch bei den Geboten ist sogleich zu differenzieren. Es gibt solche, die ihren Ursprung im Willen Gottes haben, und solche, die als „Menschengebote“ bzw. „Menschensatzungen“ klassifizierbar sind und auf menschliche Auslegungstraditionen zurückgehen. Die Kasuistik der pharisäischen Auslegungstradition (vgl. den Verweis auf Mt. 15,9) wäre ein markantes Beispiel für das, was in einer christlichen Ethik nicht geht. Für reformatorisches Denken fand sie mancherlei Parallelen in der Moral-Kasuistik der damaligen kirchlichen Lehre. In der Konzentration auf die Auslegung der Gebote Gottes vollzogen die reformatorischen Katechismen also auch eine Reduktion, in dem sie die über diese Gebote hinausgehenden kirchlichen Vorschriften für die menschliche Lebensführung beseitigten.
Der Ansatz bei den Zehn Geboten ist für die damalige Katechismusliteratur durchweg typisch. Es wäre den Theologen des 16. Jahrhunderts nicht in den Sinn gekommen, das konkrete christliche Ethos anders als in einer Auslegung des Dekalogs zu entfalten. Diesen Weg wählte folgerichtig auch der HK. Nach der Rekapitulation des Dekalogs in Frage 92 widmen sich die Fragen 94-113 der detaillierten Auslegung der Zehn Gebote. Die reformierte Besonderheit des HK besteht darin, dass er sich wegen des Bilderverbots in der Anordnung der Gebote von der lutherischen und damit auch von der katholischen Zählung unterscheidet.
Allgemein üblich ist die in Frage 93 vorgenommene Einteilung des Dekalogs in zwei Tafeln. Wiederum entspricht es stärker der reformatorischen Sicht, dass die Auslegung der ersten Tafel – der Gebote, „wie wir uns Gott gegenüber verhalten sollen“ (Fr. 93) – besonders viel Raum erhält (vgl. Fr. 94-103) und die Auslegung der ersten Tafel diejenigen der zweiten Tafel regiert. Es ist bemerkenswert, dass ethisch relevante Aspekte wieder bei der Auslegung des Herrengebets auftauchen, so dass es durchaus möglich ist, die konkrete Ethik stückweise über die Beschäftigung mit dem Gebet Jesu zu entfalten.
Das bereits in Frage 4 eingeführte Doppelgebot der Liebe fungiert als Bündelung des Dekalogs und seiner beiden Tafeln. Das hier angesprochene Grundproblem des sündigen Menschen, die Gebote nicht halten zu können, wird am Ende der Gebotsauslegung des HK in den Fragen 114 und 115 wieder aufgenommen: Können die zu Gott Bekehrten diese Gebote vollkommen halten? (Fr. 114). Die Antwort ist ein klares Nein, auch noch die frömmsten Menschen kämen in diesem Leben „über einen geringen Anfang dieses Gehorsams nicht hinaus“ und blieben zeit ihres irdischen Lebens solche Anfänger (Fr. 114). Die realistische Sicht auf die begrenzten Fähigkeiten der Frommen musste unweigerlich die Frage 115 provozieren: „Warum läßt uns Gott denn die zehn Gebote so eindringlich predigen, wenn sie doch in diesem Leben niemand halten kann?“
Die Antwort läuft auf einen duplex usus legis für Christen hinaus: Einerseits fungieren die Zehn Gebote als Sündenspiegel, der uns immer intensiver zu Christus treibt, zum anderen dienen sie uns zum Anstoß, dass wir „unaufhörlich uns bemühen“, dies aber in der beständigen Bitte um die Gnade Gottes und seines Heiligen Geistes, „daß wir je länger, je mehr zum Ebenbild Gottes erneuert werden“ (Fr. 73). Das liegt ganz gewiss auf der Linie des sog. „tertius usus legis“, der hier freilich in eine ausdrückliche Theologie der Heiligung eingebettet wird. Aufschlussreich ist auch die eschatologische Pointe der Ethik des HK: Das Ziel der Vollkommenheit werden wir erst nach diesem Leben erreichen (vgl. ebd.).
Die Gebotsauslegung ist freilich so gehalten, dass die Ermutigung zur Erfüllung der Gebote eindeutig dominiert. Es wird nicht nur gesagt, was wir nicht tun sollen und nicht tun dürfen, was ja bei der fast negativen Formulierung der meisten Gebote im Sinne von Verboten durchaus naheliegen würde. Ähnlich wie in Luthers Katechismen zielt die Auslegung auf eine konstruktive Beschreibung der positiven Erfüllung des jeweiligen Gebots. Nur beim Bilderverbot (Fr. 96-98) ist das nicht gelungen, so dass die Frage nach einer positiven Erfüllung diese Gebots offen bleibt. Vielleicht liegt das auch in der Natur dieses von einer großen Negation her bestimmten Gebots.
Es ist hier nicht der Ort, die Gebotsauslegung im Detail zu untersuchen. Das muss dem Seminar vorbehalten bleiben. Wir haben uns zunächst mit dem Ansatz der Ethik des HK beschäftigt. Soviel sollte freilich deutlich sein: Die heutige christliche Ethik braucht an diesem Ansatz nicht achtlos vorüberzugehen, indem sie ihn etwa an die Geschichte des ethischen Denkens überweist. Der Rekurs auf den Dekalog, die Motive der Dankbarkeit und der Freude, das Wissen um das ethische Versagen und zugleich die tröstliche, befreiende Kraft der Vergebung – all das sind Chancen für eine ethische Reflexion, die sich der reformatorischen Theologie verpflichtet weiss und von ihr lernen möchte.
[1] Vgl. BSRK 715, Z. 30.
[2] KD III/4, 95-127.
[3] Martin Luther: Studienausgabe 1, 11979, 206, Z. 13f. „Der Mensch, der da annimmt, er wolle dadurch zur Gnade gelangen, daß er wirkt, was in ihm ist, fügt der Sünde eine Sünde hinzu, so daß er doppelt schuldig wird.“ (vgl. WA 1, 354, Z. 11f.).
[4] Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe V, 30.
[5] Zitiert nach Udo Smidt, Der Heidelberger Katechismus im Zeugnis der Bekennenden Kirche, in: W. Herrenbrück, U. Smidt (Hg.), Warum wirst du ein Christ genannt? Vorträge und Aufsätze zum Heidelberger Katechismus im Jubiläumsjahr 1963, Neukirchen-Vluyn 1965, 144-155, hier 146.
[6] Vgl. I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft: „Erstes Stück. Von der Einwohnung des bösen Princips neben dem guten: oder über das radicale Böse in der menschlichen Natur“, Akademie-Ausgabe VI, 1-202, Zitat: 19.
[7] Vgl. H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964.
[8] I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe IV, 385-463, Zitat: 421 (im Original hervorgehoben). Die dann klassisch gewordene Formulierung des kategorischen Imperativs wurde oben, S. 5 zitiert.
[9] Vgl. I. Kant, Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen, Akademie-Ausgabe VIII, 423-430.
[10] Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Anm. 6), 38.
[11] AaO., 32.
[12] Wilfried Joest: Dogmatik, Bd.2 Der Weg Gottes mit den Menschen, Göttingen 41996, 474f.
[13] AaO., 475.
[14] Vgl. ebd.
[15] WA 6, 207 (Wortlaut hier und im folgenden modernisiert nach Martin Luther Taschenausgabe 4, 45).
[16] Ebd.
[17] Ebd.
[18] Corpus Doctrinae christianae ecclesiarum a Papatu reformatorum, continens Explicationes Catecheticas D. Zachariae Ursini, Bremen 1623, 640.
Zitierweise:
Michael Beintker, Der Ansatz der Ethik im Heidelberger Katechismus (2007), auf: www.reformiert-info.de, URL: http://www.reformiert-info.de/2496-0-0-3.html, (Abrufdatum)
Michael Beintker