Liebe Gemeinde!
Zum vierten Mal geht es heute um das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes. „Das Kapitel ist doch gar nicht so lang und schwierig. Was predigt ihr denn da?“, so bin ich schon gefragt worden. Und dennoch sitzen wir heute zum vierten Mal hier beisammen, um etwas von der Liebe zu verstehen. Wir sitzen heute hier, um vielleicht wieder ein bisschen mehr zu verstehen, was Paulus von der Liebe denkt und bekennt und uns vermitteln möchte.
Auf der einen Seite entwirft Paulus und malt vor unsere Augen ein so aufgeladenes, ein so sentimental angereichertes Bild von dem was Liebe ist oder sei – und wann immer ich diesen Text höre, wie vorhin in der Lesung, so verschlägt er einem den Atem ob der Größe, der Selbstlosigkeit und der Unüberwindlichkeit dieser Liebe – und auf der anderen Seite stehen, leben und arbeiten wir in einer Welt ausufernder Lieblosigkeit in fast allen Belangen des täglichen Lebens. Da erleben wir Krieg, Zerstörung, Unrecht, Gewalt, scheiternde Beziehungen, Hass, Ausbeutung. Manchmal würde man am liebsten Augen und Ohren davor verschließen. Doch all diese Irritation darf nicht dazu führen, dass wir die Liebe ad acta legen. Oder doch? Auch sollte die Schwierigkeit der Gemengelage nicht dazu benutzt werden, das Nachdenken über Liebe zu privatisieren. „Soll doch jede, soll doch jeder selber sehen, was mit Liebe noch anzufangen ist und ob man sich dem Dilemma überhaupt noch stellt.“ Es entspräche dem gängigen Muster der Zeitgenossenschaft, Liebe ganz in die Privatheit abzudrängen. Ein gemeinsames Nachdenken, einen Weg, einen gemeinsamen Weg, auf den verzichten wir wohl besser, angesichts der beschriebenen Sachlage – oder!?
„Wo Unrecht geschieht, freut sie sich nicht (die Liebe), vielmehr freut sie sich mit anderen an der Wahrheit.“
Der Vers sechs also, um den es heute geht, kommt unprätentiös, knapp und sachlich daher. Er enthält erst einmal eine negative, eine abgrenzende und verneinende Aussage über die Liebe. – Die Liebe freut sich nicht über das Unrecht, das geschieht. Nun kann ich dem ganz schnell zustimmen – oder etwa nicht? Wir, sie und ich, wir freuen uns doch nicht, wenn ein Unrecht geschieht. Ganz so unmittelbar, vordergründig und offensichtlich bestimmt nicht. Keine, keiner von uns würde sich freuen, wenn wir gleich aus der Kirche kämen und draußen würde ein Ausländer massiv mit fremdenfeindlichen Parolen beschimpft. Das wäre uns unangenehm und wir müssten überlegen, ob wir nicht gar einschritten.
Kein Mensch freut sich über das Unrecht der Steuerhinterziehung. Kein Mensch? Komisch, ich merke, dann, wenn das Unrecht zu meinem Vorteil geschieht, dann werde ich vorsichtiger mit den vollmundigen Absichtserklärungen. Und dennoch ist es ein Unrecht! Wenn es aber darum geht, ein preiswertes Hemd oder eine günstige Hose zu kaufen, dann treten meine Bedenken über die ungerechten, weil unmenschlichen und menschenunwürdigen, Produktionsprozesse in Bangladesch in den Hintergrund – solange sie mir nicht im Fernsehen gezeigt werden und ich nicht mit den Konsequenzen konfrontiert werde. Aber wenn dieses Unrecht mir in seiner Bedeutung für die betroffenen Menschen einsichtig ist, wenn ich eingestürzte Fabrik sehe und um die über tausend Toten weiß, dann kann an diesem Unrecht nun wirklich keine Freude entstehen! Aber es bleibt weit weg, irgendwie unkonkret, schnell vergessen.
Was können wir an diesen Beispielen verstehen? Je unmittelbarer wir mit dem Unrecht konfrontiert werden, je konkreter und deshalb auch nachvollziehbarer es für uns ist, desto vorbehaltloser können wir die biblische Aussage bejahen: „Wo Unrecht geschieht, freut sie sich nicht, die Liebe.“ Auch der Predigttext will das wohl nahelegen, wenn er so ungewohnt und zuspitzend formuliert „wo Unrecht geschieht“. Es ist Paulus wichtig, dass da wirklich etwas geschieht, etwas, dass man mitkriegen kann und mit kriegt. Es geht nicht um ein allgemeines Nachdenken über Unrecht, nicht um ein abstraktes, theoretisches Philosophieren über Unrecht, nein es geht um die Konkretion, um das Unrecht, das geschieht, da tritt die Liebe, von der Paulus erzählt auf den Plan. Da verweigert Liebe die Freude. Da ist von der Liebe keine Zustimmung zu erwarten, keine Unterstützung, kein Auge, dass zugedrückt wird, kein Abwiegeln, keine Verharmlosung, kein Mitmachen. Nein, die Liebe will Unrecht nicht geschehen lassen. Man kann sicher über Unrecht theoretisch nachdenken, aber dann wenn es geschieht, dann wenn es konkret wird, wenn Menschen davon betroffen sind, dann ist nur ein klares, eindeutiges Nein möglich. Im Geschehen, in der Konkretion wird Unrecht zum Unrecht, zur Unmöglichkeit.
Das ist schon überraschend; denn den Satz „die Wahrheit ist immer konkret“, den hatte ich bisher nur mit Lenin in Verbindung gebracht. Doch nun stellt sich heraus, Lenin nimmt einen biblischen Grundgedanken auf, denn nach dem biblischen Zeugnis erweist sich Unrecht und damit eben auch Recht und Wahrheit in der Konkretion. Also es ist nicht entscheidend, was man so im Kopf hin und her bewegt. Es ist nicht entscheiden was in den Sonntagsreden alles versprochen wird. Recht und Gerechtigkeit und damit Wahrheit erweisen sich immer erst im konkreten Handeln. Das heißt, solange die Politik fröhlich erzählt, dass die „Soziale Marktwirtschaft“ die ökonomische Basis für unser Zusammenleben sei und die Beste aller denkbaren Möglichkeiten, aber in der Realität kein angemessener Ausgleich zwischen den Einkommen z.B. über die Steuer stattfindet, solange ist die Gesellschaft in der wir leben ungerecht! Auch wenn wir das nicht gerne hören.
Der zweite Teil des Predigttextes kommt jetzt mit einer positiven Aussage: „… vielmehr freut sie sich (die Liebe) mit anderen an der Wahrheit“. Der Text bleibt bei seinen sparsamen, fast dürren und reduzierten Beschreibungen sich selber treu. Er bleibt sich auch darin treu, dass er immer noch keine Definition von Liebe anbietet und auferlegt. Paulus definiert nicht, er erklärt nicht abstrakt, aber er sagt, was die Liebe tut. Die Liebe freut sich. Die Liebe freut sich an der Wahrheit! Achten wir darauf, an der Wahrheit freut sie sich und nicht distanziert und abstrakt, über die Wahrheit. Nein, die Liebe freut sich an der Wahrheit!
Auch das scheint so klar, so selbstverständlich zu sein, dass sich schon die Frage aufwirft, was macht diesen Halbvers eigentlich aus? Hat er uns noch etwas anderes als Allgemeinplätze mit auf den Weg zu geben? Doch schon der erste Teil des Verses sechs hatte uns mit seinem Bestehen auf dem geschehenden Unrecht in Unruhe versetzt, so tut das auch der zweite Teil auf seine Weise. Denn die Freude an der Wahrheit, ist eine Freude in Gemeinschaft: Die Liebe freut sich mit anderen an der Wahrheit. Das heißt, nach biblischem Verständnis ist Wahrheit nicht nur immer konkret, sondern die Freude an der Wahrheit gibt es nur in Gemeinschaft, „… vielmehr freut sie sich (die Liebe) mit anderen an der Wahrheit“.
Komisch, so richtig passt uns das nicht. Warum kann ich mich nicht alleine freuen?, so frage ich. Das muss doch auch gehen. Ja, aber die Freude an der Wahrheit, das ist eine Freude, die Beziehung braucht – denn Wahrheit ist immer konkret. So wird nämlich Wahrheit mir aus der Hand genommen. Ich besitze sie nicht für mich. Wahrheit, Wahrheit von der die biblischen Texte erzählen weist mich in die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Die Frage nach der Wahrheit bringt mich in Kommunikation. Und diese konkrete Wahrheit gibt es nicht ohne Gerechtigkeit und Recht und genau daran freut sich die Liebe, gemeinsam mit anderen.
Hier, gleichsam in der Mitte des Kapitels 13, im Zentrum, weist Paulus sein theologisches Nachdenken, mit dem er der Gemeinde in Korinth helfen will, aus ihren Verirrungen herauszukommen, als ein Nachdenken aus, das ganz in der jüdisch-prophetischen Tradition wurzelt. Denn hier findet er die enge Verbindung von Gerechtigkeit und Recht mit der Frage der Wahrheit. Es ist doch der Prophet Micha, bei dem es heißt: „Gott hat dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Adonaj von dir fordert: Nichts anderes als Recht tun und Güte lieben und besonnen mitgehen mit deinem Gott.“ (Mi 6,8) Oder Hosea, der von Gott erzählt, der mit Recht und Gerechtigkeit um den Menschen wirbt. (vgl. Hos 2,21) Oder Amos: „Es wälze sich herab wie Wasser das Recht und Gerechtigkeit wie ein starker Strom.“ (Am 5,24) Gott setzt nach Jesaja das „Recht zur Messschnur“ „und die Gerechtigkeit zur Waage“. (Jes 28,17) Und Jeremia kündigt den an, der „Recht und Gerechtigkeit im Lande“ umsetzen wird. (vgl. Jer 23,5) Das ist die Wahrheit, auf deren Weg uns Gott stellt.
Obwohl nur ein Satz, obwohl Paulus hier nur wenige, aber kräftige Striche aus Papier setzt, so leuchtet die ganze biblische Tradition von dem Gott auf, der sich aus freien Stücken selber an den Menschen bindet und der sein Verhältnis zu eben diesem Menschen mit Recht und Gerechtigkeit ausgestaltet – denn Wahrheit ist immer konkret. Und dieses, sein Verhältnis zu den Menschen, bringt er auf den Begriff Liebe, besser die Tat Liebe.
Diese Liebe, von der das ganze Kapitel 13 so zugespitzte und pointierte Aussagen macht und so ein Leben in Fülle und Freude für uns bereitet und für uns ausbreitet, ist nicht eine Idee, ist keine soziologische Theorie, kein sozialpsychologischer Beratungsansatz. Nein, sondern es ist der Versuch, Gottes Tun für uns Menschen zu beschreiben. Dieses Tun Gottes manifestiert sich – denn Wahrheit ist immer konkret – in Jesus Christus, also in Gottes Handeln an sich selbst und in sich selber, in Kreuz und Auferweckung.
Wenn also Paulus so von der Liebe Gottes singt, dann muss klar sein und bleiben, dass dabei von der Liebe Gottes gesungen wird, von der Liebe, mit der uns Gott begegnet. Wir müssen achtsam und liebevoll mit seinem Text umgehen; denn er überfordert uns völlig, wenn wir ihn ganz unmittelbar auf unser Tun beziehen. Und doch geschieht das immer wieder. Wen wundert es da, dass wir diesen Text zu einem sentimentalen, wonnigen – weil unkonkret – Trautext uminterpretiert haben. Zu einem Text, mit dem wir das Leben und Lieben der Menschen in eine Traumwolke gebeamt haben. Ja, es ist wahr, eine Liebe, die sich so vom Unrecht absetzt und sich an der Wahrheit erfreut, erleben wir in unserem Alltag so gut wie nie. So ist aus diesem Text über die Liebe Gottes unter der Hand eine Idee menschlicher Liebe geworden, eine abstrakte. Eine Idee, die hoch und unerreichbar über unserem Alltag schwebt, an die wir nicht herankommen. Eine Idee, von der wir uns traurig abgewendet haben, weil sie in der rauen Realität des irdischen Lebens nicht hilft. Auch könnten wir uns eine solche Liebe gar nicht leisten, ohne unter die Räder zu kommen. Ein vernünftiger Interessenausgleich ist dann noch das Engagierteste was wir anzubieten vermögen – auch nicht schlecht.
Doch irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, nach all diesen Überlegungen auf einmal mit völlig leeren Händen dazustehen. Ist es das Interesse des Paulus, uns unserem Leben so schutzlos auszuliefern? Nein und abermals Nein! Paulus erzählt der Gemeinde in Korinth, und damit auch uns, dass Gott diese Liebe ist. Es ist die Liebe Gottes, die in der Wahrheit, die immer konkret ist, uns in Recht und Gerechtigkeit begegnet. Es ist die Liebe Gottes, die in Jesus Christus in der Geschichte sogar Mensch geworden ist, der sich in Kreuz und Auferstehung ganz mit uns solidarisiert hat. Und diese in Jesus Christus geschichtlich und konkret gewordene Liebe ist nicht nur ein Geschehen in der Vergangenheit, an das wir uns sehnsüchtig, glaubend erinnern. Nein, dieses Geschehen kommt immer wieder, jeden Tag aufs Neue, aus der Zukunft auf uns zu. Denn der Erniedrigte ist zugleich der Erhöhte, der uns nicht im Stich lässt.
Und so überfordert uns Paulus mit seinen Konkretionen der Liebe nicht. Er hat gar nicht den liebenden Menschen im Blick, sondern der singt von Jesus Christus, der Mensch gewordenen Liebe Gottes, der einen Weg unter unseren Füßen ausbreitet und der unserer Liebe, und sei sie noch so sehr Stückwerk, eine Perspektive, eine Richtung gibt. Nicht ein Korsett, eine Ausrichtung! So gewinnen wir Erkenntnis, nicht direkt, aber in der Nachfolge des sich selbst kundgebenden Gottes. So werden wir in seine Liebe mit hineingenommen.
Nun bietet uns Eva Zeller, in ihrem Gedicht „Nach erste Korinther dreizehn“, eine ermutigende und orientierende, aber die Irritationen nicht billig auflösende Nachdichtung unseres Verses an:
VII „Sie freut sich nicht ... Morgen“ (das ganze Gedicht online hier, bes. S. 23: http://www.lyrikschadchen.de/Eva_Zeller_Gedichte.pdf)
Dieses Gedicht könnte uns noch einmal deutlich machen, worum es auf dem Weg der Nachfolge, auf dem Weg der Liebe, nach erste Korinther 13, dann doch geht; um unser ganz konkretes Einmischen für Gerechtigkeit und Recht. Da sind wir, um der Wahrheit willen gefragt, wir.
Wie ist das mit den Plänen, dass auch die Bundeswehr in Zukunft Tötungen im Kriegsfall möglichst unkonkret – also ohne Wahrheit – mit Drohnen in die Tat umsetzen will?
Wie ist das mit der Ausländerfeindlichkeit in der Mitte unserer Gesellschaft, zwanzig Jahre nach Solingen? Haben wir neu lieben gelernt?
Wie ist das mit der auseinanderbrechenden Gesellschaft und den sich zaghaft artikulierenden Protesten der Blockupy-Bewegung? Das Fragen ließe sich fortsetzen.
So vieles ist unter uns ohne Liebe und dient weder Gott noch den Menschen. Doch gerade dazu will uns unser Predigttext ermutigen. Er will uns wachrütteln. Er weist uns den Weg der Liebe, die sich freut, an der Wahrheit, an Recht und Gerechtigkeit. Gehen müssen wir ihn selber, in Gemeinschaft, im Kreis der Freundinnen und Freude, der ArbeitskollegenInnen, in Formen des bürgerschaftlichen Engagements. In kleinen, mutigen Schritten, nur gehen müssen wir.
Amen.