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Die unbedingte Liebe Gottes - ''eine ganz schöne Zumutung''
Interview mit der Theologin Hanna Reichel

Der Abschlussgottesdienst des Kirchentags 2025 stand unter dem Motto „Nichts kann uns trennen“. Was ist damit gemeint?
Der Titel kommt von einer Bibelstelle aus dem Römerbrief: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes“, sagt Paulus dort. Eigentlich trennt uns Menschen so einiges, privat, gesellschaftlich, und politisch. Viele Leute haben Ängste, von der Altersarmut bis bis hin zur Klimakatastrophe. Ich glaube, dass diese Angst – dass uns etwas weggenommen wird, dass einige bevorzugt behandelt werden, dass unerfüllbare Ansprüche an uns gestellt werden, dass nicht genug für alle da ist – einer der Hauptgründe ist, warum wir unser Herz eng machen gegenüber anderen.
Natürlich sind die Dinge, vor denen wir Angst haben, ganz real und auch wirklich bedrohlich. Paulus redet von Trübsal, Angst, und Verfolgung, Hunger und Blöße, Gefahr, und Tod. Der Glaube könnte uns aber helfen, an dieser Angst zu arbeiten. Wenn wir wissen, dass uns nichts davon letztlich von Gott trennen kann, können wir auch Mut gewinnen, uns nicht in unserer Angst von anderen abzuschotten, sondern aufzumachen, und nicht nur unsere Ängste zu konfrontieren, sondern auch die Realitäten, die sie verursachen.
Inwiefern?
Unsere menschliche Liebe ist ziemlich begrenzt, und wenig geeignet, Trennungen zu überwinden. Oft baut sie sogar selber welche auf. Oft bezieht man sich mit „im Namen der Liebe“ auf die, die einem eben am nächsten sind: die eigene Familie, die gemeinsame Nation usw. Bei Interessenkonflikten leiten sich dann aus Freundbildern ganz schnell auch Feindbilder ab. Wir sehen dann in den anderen nur noch eine Bedrohung und Begrenzung der eigenen Freiheit. „Die Hölle, das sind die anderen,“ schlussfolgert der Philosoph Sartre. Die queere Theoretikerin Lauren Berlant kontert: „Hell are other people - if we are lucky!” Mit anderen zu leben ist schwer, aber ohne andere Menschen zu leben, ist unmöglich. Wir sind aufeinander angewiesen, das macht es ja so schwer.
Und da hilft der Glaube?
Der Philosoph Friedrich Nietzsche, einer der schärfsten Religionskritiker, der sagte einmal: „Erlöster müssten mir die Christen aussehen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte.“ Das trifft es glaube ich ganz gut.
Der Glaube gibt uns diese krasse Zusage: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes.“ Das ist eine unbedingte Zusage, und in Jesus Christus sehen wir, wie weit Gott geht, um sie einzulösen: in die Welt, in die Feindschaft, in den Tod, und darüber hinaus. Und dann hat, gegen alles, was wir verstehen können, der Tod nicht das letzte Wort. Das ist das absolut Unbegreifliche.
Gottes Liebe überwindet alles, was uns von ihm und voneinander trennt. Aber da steckt dann auch eine ganz schöne Zumutung drin: Gott gehört nicht uns, sondern wir gehören zu Gott - zusammen mit all den anderen. Denen gilt die Liebe Gottes ja auch. Dann müssen wir uns leider auch miteinander arrangieren, und selbst wenn es noch so nervig ist. Und es bleibt auch nervig. Aber wir können die Angst loslassen. Wir können es uns erlauben, unser Leben nicht vollständig von der Angst bestimmen zu lassen. Und dann können wir auch echte Gemeinschaft erleben, über Grenzen hinweg.
Sie leben seit mehren Jahren in den USA. Dort sehen wir eine gesellschaftliche Spaltung. Macht sich das auch in christlichen Gemeinden bemerkbar?
In den USA gibt es die meisten Trennungen nicht innerhalb einer Gemeinde, sondern zwischen ihnen. Es gibt dieses Zitat von Martin Luther King: „11 o'clock on Sunday morning is one of the most segregated hours, if not the most segregated hour, in Christian America.“ Das gilt leider immer noch, auch nach dem offiziellen Ende der Segregation. Eigentlich sollte der Gottesdienst zusammenbringen. Aber in der Praxis ist das leider oft umgekehrt – verschiedene Gemeinschaften bilden sich um unterschiedliche Ansichten, Überzeugungen, Lebensstile. Menschen feiern mit denen, mit denen sie etwas verbindet, die politische Ausrichtung, die Kultur, geteilte Werte.
Wie kommt das?
Das ist zunächst einmal historisch gewachsen. In den Vereinigten Staaten sind Kirchen „voluntary associations,“ freiwillige Formen von Vergemeinschaftung. Man wird also nicht in eine religiöse Tradition hineingeboren wird, sondern ordnet sich selbst einer bestimmten Tradition zu. Mit der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung nimmt das eher noch zu, und es wirkt sich auch auf das Gemeindeleben aus: darauf zum Beispiel, in welcher Art die Leute singen, beten, sich anziehen, oder auch auf welche Demonstrationen gehen.
Spielen Machtverhältnisse bei Spannungen eine Rolle?
Ja, total. Viele der manifesten Trennungen in den Staaten basieren auf historisch gewachsenen Ungerechtigkeiten. Die schlagen in alle Sozialsysteme durch und selbst bis in die Städteplanung. Wer landet mit wem in einer Nachbarschaft, auf einer Schule, in einer Gemeinde – auch wenn nicht mehr segregiert wird?
Aber wo Macht Gemeinschaft strukturiert, steht mir immer das Wort vom Kreuz vor Augen: Jesus wird als Verbrecher und Gottesleugner von den Mächtigen der Welt gekreuzigt. Die Auferstehung sagt uns: Diese Mächte haben nicht das letzte Wort, Gott bekennt sich zum Gekreuzigten. Das Kreuz ist und bleibt ein Ärgernis für diejenigen, die Macht suchen, auch im Namen des Glaubens. Aber mit und bei dem Gekreuzigten zu stehen gibt uns auch die Kraft, im Namen Gottes Einspruch gegen menschliche Machtansprüche und Machtstrukturen zu erheben. Daran erinnert zum Beispiel die Barmer Theologische Erklärung: Wenn Jesus Christus unser Herr ist, dann kann keine politische Macht den absoluten Anspruch erheben, zu bestimmten, wie Kirche und Gesellschaft zu funktionieren haben. Wenn Macht absolut wird, dann lässt sich das als eine Form von Götzendienst kritisieren.
Wie können Kirchen in Deutschland helfen, Ängste zu überwinden?
In Deutschland haben die Kirchen immer noch eine ganz schöne Reichweite, in der Diakonie, an den Schulen, und den volkskirchlichen Strukturen, das hat ungeheure Potentiale und Gefahren. Einerseits sind sie gefühlt überall mit Niedergang und Konkursverwaltung beschäftigt, andererseits haben sie selbst natürlich eine Menge Macht, sind auch in strukturelle Ungerechtigkeiten verstrickt oder fungieren als Interessenverband oder Kulturverein für bestimmte Milieus.
Es ist nicht selbstverständlich, dass Kirche immer auf der richtigen Seite steht. Sie muss selbst immer wieder Umkehr und Busse praktizieren. Wo trägt sie selbst dazu bei, Ängste zu erzeugen statt abzubauen, zum Beispiel bei denen, die in ihrem Raum Missbrauch, sexuelle Gewalt, Diskriminierung und Zurückweisung erfahren haben? Wer taucht nicht im Gottesdienst auf, und warum nicht?
Ich habe das Gefühl, dass Kirche in Deutschland oft zu sehr damit beschäftigt ist, um ihr Überleben zu kämpfen. Das ist ja auch verständlich. Aber es muss ihr auch um mehr und etwas anderes gehen als um das eigene überleben. Wenn Kirche den Anspruch hat, für alle da zu sein, wie müsste das aussehen? Wo können Begegnungen stattfinden? Wie zeigt sich in unserem Umgang miteinander, im Hören aufeinander, im Loslassen unserer Bestandsängste die Hoffnung, von der wir leben, und die Freiheit, von der wir erzählen?
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Hanna Reichel ist Professorin für Systematische Theologie im Princeton Theological Seminary. Zu den Schwerpunkten zählen unter anderem Studien zu Karl Barth, Heidelberger Katechismus und Queer Theory. Reichel ist zudem in der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen bei der Vorbereitung der Generalsynode 2025 in Thailand beteiligt. Beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 2025 hielt Reichel die Predigt für den Abschlussgottesdienst.
RB