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Du bist mein Schutz und mein Schild; ich hoffe auf dein Wort.
Predigt zu Psalm 119,114

Liebe Gemeinde,
unser heutiger Predigttext hat es in sich und zwar weil Gott es in sich hat. Was oder – besser gefragt – wen hat denn Gott in sich? Nun, den Beter selbst – so lautet die Spitzenaussage unseres Predigttextes. Gott – er ist der Schutzraum für den Beter. In ihm kann er sich bergen. In einer englischen Übersetzung unseres Predigttextes heißt es: „You are my hiding-place“1 – Du bist der Ort, wo ich mich verstecken, wo ich mich bergen kann. Wir kennen solche Aussagen auch aus anderen Psalmen der Bibel. In Ps 90,1 heißt es etwa: „Herr, du bist unsere Zuflucht für und für.“
Im rabbinischen Judentum, das sich nach der Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n.Chr. entwickelte, wird der hebräische Name Ha-maqom (der Ort, der Raum) zu einem Namen Gottes, also zu einer häufig begegnenden Gottesbenennung, wie wir beispielsweise vom „Allmächtigen“, dem „Herrn Zebaoth“ usw. sprechen. In der rabbinischen Auslegung, genauer gesagt im Midrasch Bereschit Rabba heißt es: „R. Huna sagt im Namen des R. Ami: Warum heißt Gott maqom Ort? […] R. Jizchak sagt: ‚[…] wir wissen nicht, ob Gott die Wohnung der Welt […], oder ob die Welt die Wohnung Gottes ist. Da es aber heißt [Ps 90,1]: ‚Adonaj, du bist die Wohnung für uns gewesen von Generation zu Generation‘, so geht daraus hervor, dass Gott die Wohnung der Welt und nicht die Welt seine Wohnung ist.“2 Gott ist demzufolge so etwas wie eine „geräumige Gottheit“3 – weit genug, um schutzbedürftige, angefeindete Menschen zu bergen, und offen genug, um Menschen, die nirgendwo sonst eine Bleibe finden, die vielleicht geistlich heimatlos durch diese Welt irren, Quartier und Obdach zu geben. „Gott ist Ort darin, dass er dem, was nicht Raum hat in der uns bekannten Welt, Lebensraum gewährt und schafft.“4
Gott als Wohnung, Gott als Zufluchtsort, Gott als Schutzraum des Menschen – diese Erfahrung hat auch unser Psalmist offenbar gemacht. Der Vers unseres Predigttextes zeugt davon. Offenbar wird er angefeindet. Kriegsbilder tauchen hier auf. Da ist nicht nur vom Schutzraum die Rede, sondern auch einem Schild. Man gewinnt den Eindruck, als sei der Beter „von einem feindlichen Heer umzingelt und angegriffen“.5 Kein Wunder, dass er auf Gott als seinen Schutzraum und sein Schild hofft. Übrigens wird im Alten Testament auch die Bezeichnung „Schild Abrahams“ (Gen 15,1) als ein Gottesname gebraucht.6 Im übernächsten Vers dann schleudert der Psalmist in Ps 119 seinen Feinden den „Kampfruf“7 entgegen: „Weichet von mir, ihr Übeltäter! Ich will mich halten an die Gebote meines Gottes“ (Ps 119,15).
Liebe Gemeinde, wie sehr wir auf einen Schutzraum angewiesen sind, merken wir in diesen Tagen: Wir sehen, wie Menschen aus Teheran fliehen aus Angst vor weiteren Bomben aus Israel oder den USA. Wir hören, wie in Tel Aviv und Jerusalem die Sirenen heulen und wie es iranischen Raketen immer wieder gelingt, ihre Ziele trotz des sog. „iron domes“, also des mobilen bodengestützten Abwehrsystems, zu erreichen. Auch diese „Eisenkuppel“ bietet offenbar keine hundertprozentige Lebensversicherung. Entsetzt nehmen wir auch wahr, wie in Gaza in einer humanitären Katastrophe auch die letzten Reste von Zivilschutz verloren gehen. „Jeder Mensch hat Anspruch auf […] Wohnung“ – heißt es im Art 25 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948. Freilich ist nicht erst der Blick in den „Nahen Osten“ erforderlich, um uns unserer Schutzbedürftigkeit zu vergewissern. Die Messerattacke am Hamburger Hauptbahnhof durch eine psychisch verwirrte Frau vor etwas mehr als einem Monat sprach Bände. Und heute Morgen titelte die HAZ: „Wie sicher ist Hannover?“8, nachdem gestern in der Fußgängerzone am helllichten Tage ein Mann einen anderen niederstach. Nicht nur die Menschen in Hannovers City fühlen sich verunsichert. Die zuständigen Politiker wie etwa der Oberbürgermeister beeilen sich – die eigene Ohnmacht kaschierend – zu erklären: „Wir werden das so nicht hinnehmen und mit der Polizei weiter eng im Austausch bleiben.“9
Das Erstaunliche an unserem Predigttext ist nun, dass unser Psalmist seine Hoffnung nicht etwa setzt auf die Polizei, physische Gegengewalt, menschliches Recht oder staatliche Gegenmaßnahmen wie etwa Waffenverbotszonen, so sinnvoll diese auch sein mögen.10 Nein, es heißt in unserem Predigttext: „Ich hoffe auf dein Wort.“ Offenbar traut der Psalmist dem Wort Gottes alles zu, sogar, dass es mit seinen hartgesottenen Feinden fertig wird. Ja, liebe Gemeinde, die Bibel ist voll von eindrucksvollen Demonstrationen der Macht des Wortes.11 Das fängt gleich zu Beginn des ersten Schöpfungsberichtes an, wenn Gott durch sein Wort die Welt erschafft: „Und Gott sprach: es werde Licht! Und es ward Licht“ (Gen 1,3). In Psalm 33,9 heißt es: „Denn wie er spricht, so geschieht’s; wie er gebietet, so steht’s da.“12 Wir kennen solche Sprechakte13 aus dem Gottesdienst. Denken wir nur an den Segen. Mit dem Zusprechen des Segens sind wir Reformierten in der Regel zwar vorsichtig. Aber wir bitten doch um ihn, in der Hoffnung, dass Gott uns durch die Kraft seines Wortes – auch mittels menschlicher Worte – segnet.
Gottes Wort schafft Wirklichkeit und darauf verlässt sich der Psalmist in unserem Predigttext. Er weiß, dass Gott alles in den Händen hält und auch seine Situation zum Besseren zu wenden vermag. Gewiss hat unser Psalmist noch nicht das dem römischen Dichter Ovid zugeschriebene Sprichwort gekannt: „Hoffen und Harren hält manchen zum Narren“. Doch der Sache nach kennt unser Psalmist natürlich nur zu gut dasjenige Phänomen, das auch wir kennen, nämlich dass zu langes Warten und Hoffen uns bitter enttäuschen kann, weil es zu unrealistischen Erwartungen oder auch Untätigkeit führt.
Genau von einem solchen Hoffen und Harren ist freilich in unserem Predigttext nicht die Rede. Das Hoffen, das Warten und das Harren, von dem hier die Rede ist, geschieht in der Gewissheit, dass Gott allein die Macht hat, das Erhoffte, Erwartete und Erharrte auch einzulösen. Der Erfolg hängt also nicht an der menschlichen Intensität des Hoffens, Wartens und Harrens. Das heißt freilich nicht, dass das Hoffen, Warten und Harren des Psalmisten nicht wirklich ernst gemeint wäre und er es an der rechten Intensivität mangeln ließe.14 Im Gegenteil. Die hebräische Verbform jichalti, die hier gebraucht wird, verrät uns, dass es um ein höchst aktives Tun geht. Es handelt sich der Stammform nach nämlich um ein sog. Piel, das sprachlich die intensive Art des Tun ausdrückt. Intensiv ist dieses Hoffen, Warten und Harren, weil Gott es ermöglicht. Er hat die Macht, nicht nur das Erhoffte, Erwartete und Erharrte Wirklichkeit, sondern bereits dieses Hoffen, Warten und Harren intensiv werden zu lassen. Alles ist letztlich an Gottes Macht gelegen: die Entfeindung von Menschen, die Überwindung von Gewalt, die Befriedung der Welt im Großen wie im Kleinen. Darauf dürfen wir uns, liebe Gemeinde, verlassen. Wir dürfen, ja wir können es, weil Gott die Macht hat und auch uns ein solches Vertrauen, ein solches Verlassen auf seine Wirkmacht ermöglicht. Nochmals: Es kommt immer auf die Macht an und die wahren Machtverhältnisse auf Erden sind seit dem Ostermorgen geklärt.
Zum Schluss noch ein triviales Beispiel aus dem Leben, wie Wirklichkeit schaffende Sätze funktionieren: „Da fragt man im Café oder im Vortragsraum: ‚Ist der Platz frei?‘ Er ist ja in diesem Moment ersichtlich frei; die Frage zielt darauf, ob er womöglich bereits für jemanden vorgesehen ist. Und wenn dann die Antwort erfolgt: ‚Der Platz ist leider besetzt‘, dann ist der Platz noch immer frei, doch dieser Satz macht ihn besetzt. Aber schafft der Satz, was er besagt? Unter höflichen Menschen wird er es tun, aber das hindert nicht, dass sich jemand gleichwohl dieses Platzes bemächtigt und ihn gegebenenfalls auch behauptet. Das triviale Beispiel macht deutlich, dass die Macht des Wortes an eine Kraft hinter dem Wort gebunden ist. So ist es auch bei den Wirklichkeit schaffenden Worten im Gottesdienst. Sie entfalten ihre Kraft, ihre Macht in ihrem Rückbezug auf Gottes Macht und Gottes Kraft.“15 Das gilt auch für den Segen: An Gottes Segen ist auch hier alles gelegen. Das heißt, dass Gott die Macht und Kraft hat, den zugesprochenen Segen auch wirksam werden zu lassen oder eben auch nicht. Der Segen entfaltet seine Kraft nicht automatisch, sondern wann und wo Gott es will und gefällt. Das ist der Vorbehalt, unter dem all unser gottesdienstliches Tun steht, sofern es Gott in seinem Tun eben nicht vereinnahmen will.16
Liebe Gemeinde, wir dürfen hoffen – hoffen, dass Gott sein Wort wahr macht und dass er hält, was er verspricht. Wir dürfen hoffen, weil er die Macht hat, alles zum Guten zu wenden. Er will auch mein und dein Schutz und Schild sein. Amen
1 Walter Brueggemann / William H. Bellinger, Jr., Psalms. New Cambridge Bible Commentary, New York 2014, 515.
2 Zit. nach Der Midrasch Bereschit Rabba. Ins Deutsche übersetzt von August Wünsche, Leipzig 1881 (Reprint Hildesheim 1967), 329.
3 Vgl. Magdalene L. Frettlöh, Trinitarische Wohngemeinschaft. Ha-maqom – die geräumige Gottheit, in: dies., Gott, wo bist Du? Kirchlich-theologische Alltagskost Bd. 2, Erev-Rav-Hefte / Biblische Erkundungen Nr. 11, Wittingen 2009, 79–97. Fernerhin: dies., Der trinitarische Gott als Raum der Welt. Zur Bedeutung des rabbinischen Gottesnamens māqōm für eine topologische Lehre von der immanenten Trinität, in: Rudolf Weth (Hg.), Der lebendige Gott. Auf den Spuren neueren trinitarischen Denkens, Neukirchen-Vluyn 2005, (197–232) 220. Es klingt an der Titel des Buches von Kurt Marti, Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs, Stuttgart 1989.
4 Friedrich-Wilhelm Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie Bd. 3, Gütersloh 1996, 444. Dort kursiv.
5 Frank-Lothar Hossfeld / Erich Zenger, Die Psalmen III: Psalm 101–150, NEB, Würzburg 2012, 720.
6 Vgl. Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Teil 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Königszeit, GAT 8/1, Göttingen 1992, 50 (Anm. 6).
7 Hossfeld / Zenger, a.a.O., 720.
8 HAZ vom 1.7.2025, 1.
9 Belit Ornay, Oberbürgermeister Hannover, zit. nach Peer Hellerling / Emily Bader, Messerangriff mitten in der City: Polizei nimmt zwei Männer fest, HAZ vom 1.7.2025, 9.
10 Vgl. zur Kraft der Hoffnung mit Blick auf die Politik das gleichnamige Buch von Heribert Prantl, Die Kraft der Hoffnung. Denkanstöße in schwierigen Zeiten, München 2024, insbes. 220–225.
11 Vgl. Eberhard Busch, Das Wort in der Kirche, in: Eberhard Mechels / Michael Weinrich (Hg.), Die Kirche im Wort. Arbeitsbuch Ekklesiologie, Neukirchen-Vluyn 1992, (15–38) 16; 19.
12 Treffend bemerkt Hans Joachim Iwand, Glauben und Wissen, Nachgelassene Werke Bd. 1, hg. von Helmut Gollwitzer, München 1962, 200: „Wir neigen heute dazu, das Wort mehr in seiner apophantischen, das heißt aufzeigenden, sinngebenden Funktion zu sehen, aber der biblische Sprachgebrauch versteht unter Wort Gottes nicht die vielleicht göttliche Interpretation eines Tatbestandes. Seine Worte sind nicht ‚Deutewort‘, sondern ‚Tatwort‘, ‚er spricht, so geschieht’s.“
13 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, 2. Aufl., Stuttgart 1979.
14 Treffend weist M.L. Frettlöh (Trinitarische Wohngemeinschaft, 97) darauf hin: „Jeder Name, mit dem wir Gott nennen und bekennen, nimmt nicht nur Gott in Anspruch, diesem Namen zu entsprechen, ihn wahr zu machen. Jede Gottesbenennung engagiert auch uns selbst, nimmt uns in Pflicht, diesen Namen in der Welt zu bewähren.“ So auch dies., Der trinitarische Gott als Raum der Welt, 232.
15 Jürgen Ebach, Die Macht des Wortes, in: ders., Wie liest du? Theologische Reden 11, Uelzen 2016, (134–143) 140.
16 Vor Vereinnahmungen Gottes hat insbesondere der Theologe Karl Barth eindringlich religionskritisch gewarnt. Vgl. etwa Karl Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4, Fragmente aus dem Nachlaß. Vorlesungen 1959–1961, Karl Barth GA III/7, hg. von Hans-Anton Drewes / Eberhard Jüngel, Zürich 1976, 214–217; 286f.
Von Marco Hofheinz