Die grünen Zweige und die Sehnsucht

Rolf Wischnath zum Advent

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Die Wurzel des Brauchtums, in der Advents- und Weihnachtszeit mit Tannenzweigen die Wohnung zu schmücken, findet Wischnath im jüdischen Aufstand gegen die römische Herrschaft unter dem Zeichen grüner Palmzweige.

Warum stellen sich hierzulande zu Advent und Weihnachten die allermeisten Menschen einen grünen Baum oder ein paar seiner Zweige in die Wohnung?

Der Brauch hat eine lange Entstehungsgeschichte: Schon hundertfünfzig Jahre vor Christi Geburt waren in der Heimat Jesu, in Galiläa die grünen Zweige der Palmen zum Zeichen jüdischer Freiheits- und Gerechtigkeitshoffnung geworden. Ihre brisante Bedeutung belegt die Geschichte einer Münze:

Sie zeigte ursprünglich das Bild des Königs Herodes Antipas, Statthalter von Roms Gnaden über das besetzte Galiläa. Dessen Porträt auf der Münze war für jeden Juden ein Greuel. Während des jüdischen Freiheitsaufstandes, der 66 nach Christus begann, überprägten sie darum das Gesicht auf den Münzen mit den grünen Zweigen ihrer Sehnsucht: mit einer Palme aus acht Wedeln. Sie taten es wohl drei Jahre lang. Der römische Kaiser Titus, der den Aufstand blutig niederschlug, zog dann dieses Geld wieder aus dem Verkehr. Und statt „3. Jahr der Wiedergeburt Israels“ stand auf seinen Münzen nun das schmählich „Juda besetzt“. Und das Gesicht des neuen Unterdrückers, das Christen und Juden nur als Fratze der Unmenschlichkeit ansehen konnten, ersetzte die grünen Zweige.

Durch die Jahrhunderte hindurch - auf verschlungenem Wege und kulturell in den einzelnen Ländern durchaus verschieden - hat sich der Brauch der grünen Zweige aus Anlaß der Weihnacht als des Geburtstagsfestes des Juden Jesus erhalten. Christen glauben, daß seine Geburt die Zeitenwende ist, weil Gott selbst in ihm zur Welt kam, um seine Verheißungen zu erfüllen. Der menschgewordene Gott ist ihre Hoffnung. Wegen dieses Jesus von Nazareth lassen sie sich die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden, nach Überwindung der Armut und nach politischen und sozialen Bedingungen für ein Leben in der Würde für alle nicht ausreden. Um Gottes Willen gibt es hier keine Ausrede!

Wohl wahr, der christliche Glaube ist nach einem Jahrhundert, in dem so viele Utopien begraben werden mußten, nicht mehr selbstverständlich. Im Grunde war er es nie, wo er sich seine widerständige Kraft und tätige Hoffnung auf Gerechtigkeit, seine Vision von der gleichen Würde für alle bewahrt hat. Merkwürdigerweise aber ist bei fast allen Menschen in unserem Land - seien sie nun gläubig oder ungläubig, religiös interessiert oder gleichgültig oder gar ablehnend - einmal im Jahr ein altes Symbol geblieben: die grünen Zweige mitten in dürrer Zeit: zu Advent und Weihnachten, dem Fest der Geburt Jesu Christi. Darin drückt sich - egal ob bewußt oder unbewußt - die alte menschenwürdige Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Überwindung von Unfreiheit und Armut aus. Wir sollten daran denken, wenn wir auch in diesem Jahr wieder die Lichter auf den grünen Zweigen anzünden. Denn: „Alles beginnt mit der Sehnsucht“ (Nelly Sachs). Und wo die Sehnsucht bleibt, da bleibt nichts, wie es ist.


Prof. Dr. Rolf Wischnath