Leben und sterben lassen – Teil X

Einspruch! – von Georg Rieger


Die Debatte über Sterbehilfe nimmt wieder Fahrt auf.

Auf der bayerischen lutherischen Landessynode bekam der neue EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm lang anhaltenden Applaus für den Satz: „Ich möchte, dass jeder Mensch in Deutschland weiß, dass er sich jetzt und in der Zukunft nie dafür rechtfertigen muss, dass er noch lebt.“

Ich habe auch applaudiert. Wiewohl ich ahne, dass es anders kommen wird. Schon von uns und noch viel mehr von den kommenden Generationen werden sich Viele überhaupt nicht mehr rechtfertigen können, dass sie noch leben. Denn wir werden höchst wahrscheinlich ziemlich verwirrt sein, von dem, was um uns herum passiert.

Wenn es soweit kommt, dass wir dement oder einfach nur altersverwirrt werden, dann haben wir gewissermaßen den Absprung verpasst. Dann haben Andere die Verantwortung für uns. Wenn es einigermaßen gut läuft, werden wir unsere Mitmenschen freudig anstrahlen und alles andere als verzweifelt sein. Und wer weiß: Vielleicht auch ebenso unbedarft wie ein Kind, das den Wert seines Lebens ja auch nicht selbst einschätzen kann.

In der von Bedford-Strohm benannten „durchökonomisierten Welt“ hat ein solches Leben tatsächlich nur noch einen solchen Wert, der zu Buche schlägt: die Renten- und Pflegekassen belastet und eventuell auch die Angehörigen. Diesbezüglich und auch was das den Personalbedarf für unsere Pflege angeht, gibt es düstere Prognosen.

Doch von bösen Dämonen oder Ökonomen ist diese Situation nicht in die Welt gebracht worden, sondern durch eine Generation, die nach diesem ökonomischen Maximierungsprinzip lebt und ihre Kinder entsprechend erzieht. Wer seine Kinder durch Schule und Studium peitscht und ihren Wert nach Abschlüssen und Jahresgehältern bemisst, tut sich natürlich auch mit seinem eigenen Wert im „nutzlosen“ Alter schwer.

Ich halte daher das Festhalten an einem Verbot der organisierten Sterbehilfe für den falschen Ansatz. Der trifft immer auch Menschen, die aus ganz anderen Gründen sterben wollen – und nur nicht mehr körperlich in der Lage sind, das umzusetzen. Warum die benachteiligen gegenüber denen, die es noch selbst können.

Ansetzten müssen wir Christen dabei, den Wert des vermeintlich nutzlosen Lebens klar zu machen – und zwar das ganze Leben hindurch. Die Selbstmordrate wird auch bei denen steigen, die noch klar im Kopf sind und die Aussicht auf Pflegebedürftigkeit nicht ertragen können. Sollen wir die denn auch in Schutzhaft nehmen?

Nein, es muss für uns ganz selbstverständlich werden, dass wir Menschen unter uns haben oder selbst zu denen gehören, die nichts oder nicht viel zum Bruttosozialprodukt beitragen und doch dazugehören. Und ebenso selbstverständlich wird uns auch werden, dass es am Ende des Lebens eine lange Phase geben wird, in der wir wieder wie Kinder sind: hilfsbedürftig und liebenswert.

So Gott will, dass wir leben.

Georg Rieger, 26. November 2014

Kommentare - Mitteilungen:

Bernd Kehren am 6. Dezember:

Vielen Dank für Ihren Text. Nur: Wir sind schon lange ein Teil dieser durchökonomisierten Welt. "Wir" fühlen uns unabhängig, obwohl unser Leben nur noch als fein austariertes Räderwerk funktioniert. Und viel zu viele Menschen sehen ihren Sinn nur noch darin, für andere zu arbeiten und selten an sich zu denken. Geht das nicht mehr, fühlen sie sich nutzlos. Darum wünsche ich mir, dass sich jeder an seinen Hausarzt wenden kann, wenn er seinem Leben ein Ende setzen möchte. Aber nicht, damit der Arzt ihm sofort diesen Wunsch erfüllt, sondern damit er ihn infrage stellen kann. Der Arzt ist meist lokal gut vernetzt, kennt Ansprechpartner. Er kann soziale Dienste vermitteln, auf Depressionen überprüfen und ggf. behandeln, er kann Diagnosen sichern oder überhaupt erst stellen. Er sollte zusätzlich Zeit bezahlt bekommen, um Gespräche mit Angehörigen führen zu können. Wenn der Arzt straffrei Suizidassistenz leisten dürfte, kann man ihn auch ansprechen und muss nicht zu einer der vielen Sterbehelfer-Organisationen gehen. Aber der Arzt würde nur helfen wollen, wenn er es wirklich mit sich und seinem Gewissen vereinbaren kann, wenn er weiß, dass der Patient austherapiert ist und die Leiden auch nicht durch Palliativmedizin aufgefangen werden können. Gestehen wir dies den Ärzten nicht zu, werden sie auch nicht angesprochen: Die Menschen fahren direkt "in die Schweiz". Und das Unheil nimmt seinen Lauf. Man kann von einer hohen Ethik her denken - oder von den Menschen und ihren Sorgen her. Man sollte Entscheidungen so treffen, dass man mit ihnen im Gespräch bleibt. Versucht man, bevormundende Regelungen zu treffen, werden die, die es sich leisten können, diesen Regeln ausweichen, ohne sich infrage stellen zu lassen. Wollen wir das?

Mit freundlichen Grüßen,
Bernd Kehren