Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Nielsen, Merete: Marie Dentière,
NEIN OHNE JEDES JA
Zur Erinnerung an die Reformierte Friedenserklärung (vor 40 Jahren 1982) und ihre Fortschreibung im Horizont des Russland-Ukraine-Kriegs (2022/2023)
Erster Teil: Zur Erinnerung an die Reformierte Friedenserklärung (1982)
Vorbemerkung:
Mein Vortragstext bezieht sich auch auf zwei für mich erstaunliche, wichtige, philosophische Bücher, die ich anzeigen möchte:
(I) Judith Butler, Die Macht der Gewaltlosigkeit / The Force of Nonviolenz. An Ethico-Political, bei Verso 2022. Zu ihrer Arbeit schreibt der Verlag zu Recht:
"Gewaltlosigkeit wird häufig als eine Praxis der Passivität verstanden, welche die ethische Einstellung sanftmütiger Einzelpersonen gegenüber existierenden Formen von Macht reflektiert. Dieses Verständnis ist falsch, wie Judith Butler in ihrem neuen Buch darlegt. Denn Gewaltlosigkeit kann durchaus eine aktive, ja aggressive Form annehmen, zudem ist sie ebenso wenig wie die Gewalt eine Angelegenheit einzelner Individuen, sondern stets eingebettet in soziale und politische Zusammenhänge. Auch deshalb gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wo die Grenze zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit verläuft sowie durch wen und wann Akte der Gewalt gerechtfertigt sind. Mit Foucault und Fanon arbeitet Butler die Widersprüche und exkludierenden Phantasmen heraus, die häufig am Werk sind, wenn Akte der Gewalt legitimiert oder verdammt werden. Und mit Freud und Benjamin macht sie deutlich, dass wir noch grundsätzlicher fragen müssen: Wer sind wir und in welcher Welt wollen wir leben? Butlers kraftvolle Antwort lautet: in einer Welt radikaler sozialer Gleichheit, die getragen ist von der Einsicht in die Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten menschlicher Existenz. Diese Welt gilt es, gemeinsam im politischen Feld zu erkämpfen – gewaltlos und mit aller Macht."
Zur Person: Judith Butler (* 1956 in Cleveland) ist eine US-amerikanische Philosophin. Sie ist Lehrstuhlinhaberin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, Berkeley.
(II) Das andere Buch stammt von Olaf Müller: Pazifismus - Eine Verteidigung, Reclam 14354, Ditzingen 2023.
Von Müller übernehme ich den Ausdruck „pragmatischer Pazifismus“, der mich überzeugt. Müller schreibt: "Pazifisten haben es nicht leicht: Man wirft ihnen Blauäugigkeit oder blinden Dogmatismus vor. Mein Essay verteidigt demgegenüber einen Pazifismus ohne Prinzipienreiterei, einen ‚pragmatischen Pazifismus‘. So gut wie alle kriegerischen Handlungen sind unmoralisch. Pazifismus darf deshalb nicht darauf hinauslaufen, mit geschlossenen Augen starre moralische Regeln zu predigen, sondern er muss auf friedliebende Art und Weise die politische Wirklichkeit betrachten und nach den Wegen suchen, die am ehesten pazifistisch in Richtung ‚Frieden‘ weisen.“ Olaf Müller gibt dabei in aller Offenheit zu: „Ein so verstandener Pazifismus ist anstrengend und bietet keine Garantie dafür, am Ende schuldlos zu bleiben.“
Zur Person: Olaf L. Müller, geb. 1966, Professor für Philosophie (mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie) an der Humboldt-Universität zu Berlin
I Was war los?
Der Streit fängt an im Jahr 1982. Auslöser ist die sog. „Nachrüstungsdebatte“. In ihr geht es um die Pläne, neue atomare Mittelstreckenraketen aus den USA in Deutschland-West zu stationieren. Gemeint sind die amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing II und Cruise Misseles, die als Gegenwehr zu den russischen SS 20 Raketen aufgestellt werden sollen. Über diese Fragen politischer und militärischer Zusammenhänge gibt es mannigfache Diskussionen und Konfrontationen.
Die Diskussion der Friedensbewegung sammelt sich im "Krefelder Appell" vom 16. November 1980, zu dessen Trägerkreis Martin Niemöller gehört. Dieser Aufruf kann als eines der wirkungsvollsten Manifeste der westdeutschen „pragmatischen Pazifisten“ (Olaf Müller, Humboldt-Universität Berlin) betrachtet werden. Er artikuliert die Ängste und wird von ca. drei Millionen Menschen unterzeichnet. Der Appell wendet sich an die Bundesregierung mit der Forderung, auf eine Nachrüstung gemäß dem NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 zu verzichten und vielmehr eine allgemeine Abrüstung zur Maxime ihrer Sicherheitspolitik zu machen.
Der 22. Oktober 1983 ist der Höhepunkt der Proteste gegen die Stationierung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen in Europa: Etwa 400.000 Menschen demonstrieren in Hamburg. Rund 500.000 umzingeln symbolisch das Regierungsviertel in Bonn. Hunderttausend formieren sich zwischen Stuttgart und Neu-Ulm zu einer mehr als 100 Kilometer langen Menschenkette.
Schon im Jahr vorher, im Sommer `82, kommt eine theologische Thesenreihe in die Öffentlichkeit, die das „Reformierte Moderamen“ - d.h. die Leitung des Reformierten Bundes - verfasst und einstimmig angenommen hat. Sie trägt den Titel Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche. Dass das Moderamen darin die Friedensfrage zu einer „Bekenntnisfrage“ macht, löst erhebliche innerkirchliche Diskussion aus: „Wir sagen ein Nein ohne jedes Ja zu den atomaren Waffen“ (in der Erklärung auch oft „Massenvernichtungswaffen“ genannt).
Diese Formulierung wird zu einer Äußerung der kirchlichen Friedensbewegung. 1983 bestimmt das „Nein ohne jedes Ja“ den Kirchentag in Hannover. Sie ist auf einem Meer der hellblauen Halstücher zu lesen – verbunden mit einer Karikatur, auf der eine A-Bombe aus der Kirche getreten wird. Das Reformierte Votum wird enorm beachtet. Sie findet Zustimmung, aber eben auch Kritik. Die Beteiligten von damals wissen, welche Auseinandersetzungen es gab und wieviel Schmerzen in harten Meinungskämpfen und ungeschwisterlichen Trennungen die Erklärung auslöste.
II Der Härtefall
Die beiden wichtigsten Abschnitte der Erklärung stehen in der These I und V (von sieben Thesen), wo es heißt:
„Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist der ‚status confessionis‘ gegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernichtungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.“ (These 1)
Und:
„Im Glaubensgehorsam gegen Jesus Christus sagen wir: Auch für staatliche Machtmittel gibt es eine durch das Gebot des Herrn gesetzte Grenze, die nicht überschritten werden darf. Massenvernichtungsmittel sind keine angemessenen und notwendigen Machtmittel, mit denen ein Staat potentielle militärische Gegner abschrecken und im Kriegsfall bekämpfen darf. Es ist zwar Aufgabe des Staates, für Recht und Frieden zu sorgen und das Leben seiner Bürger zu schützen. Aber Massenvernichtungsmittel zerstören, was sie zu verteidigen vorgeben. Ihnen gilt vonseiten der Christen ein aus dem Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer, Versöhner und Erlöser gesprochenes bedingungsloses ‚Nein!‘, ein ‘Nein ohne jedes Ja‘" (These 5).
Die Benennung des „status confessionis“ ist der Härtefall. „Status confessionis“ ist ein Bekenntnisnotstand, durch den die kirchliche Gemeinschaft in Frage steht. Er ist ein Zustand Fall, der das Bekennen zur Pflicht macht. Dadurch kommt eine Herausforderung zur Sprache. Man kann den „status confessionis“ auch als eine aus der biblischen Botschaft heraus entwickelte Antwort auf einer Grundfrage, die alternativlos vorgetragen wird – zum Beispiel „die Feindesliebe“. Diese Position dringt darauf, dass sich in einem Prozess der Verständigung – Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter sprechen von einem „processus confessionis“1 - möglichst viele „Kirchengremien“ einvernehmlich verständigen mögen.
Von daher kommt es zu einem Handgemenge über das Bekenntnis zu Jesus Christes. Ein hitziger, bislang in der EKD nicht gekannter Streit über das „Bekenntnis zu Jesus Christus“ ist ausgelöst. Der führende Lutheraner, der damalige Ratsvorsitzende der EKD, der hannoversche Bischof Eduard Lohse schreibt in seinen Memoiren über diesen Konflikt, wie er sich in der „Kirchenkonferenz“ als der Versammlung aller Kirche-Leitenden (Bischöfe, Präsides, Kirchenpräsidenten, Landessuperintendenten und Juristen) am 16. September 1982 in der EKD-Kanzlei zu Hannnover:
„In der gesamten Zeit meiner Zughörigkeit zu den Organen der EKD habe ich keine andere Beratung der Kirchenkonferenz erlebt, in der mit solcher Schärfe der Kritik diskutiert wurde.“
In der Kirchenkonferenz sind es besonders die Mitglieder des Moderamens und Landessuperintendenten Ako Haarbeck (Lippische Kirche) und Gerhard Nordholt (Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland), die sich auf die Seite ihrer Friedenserklärung stellen und Rede und Antwort geben. Der ehemalige, hoch geachtete Moderator Hans Helmut Esser (Uni Münster) distanziert sich ohne Aufhebens, um das Moderamen nicht öffentlich zu schelten. Der neue Moderator Hans-Joachim Kraus (Uni Göttingen) geht in die Gemeinden und schreibt verschiedene Stellungnahmen in der kirchlichen und weltlichen Presse. Auch die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung öffnet ihm ihre Seiten.
III Gegenwind
In Sommer vor vierzig Jahren gibt dann die Vereinigte Evangelisch Lutherische Kirche (VELKD) bekannt: «Wir können dem Aufruf des reformierten Moderamens nicht zustimmen, politische Entscheidungen – selbst solche auf Leben und Tod – zu Bekenntnisfragen der Kirche zu erklären. Die Kirche steht und fällt mit ihrem Bekenntnis zu Jesus Christus [...]. Allein im Glauben an ihn entscheiden sich Heil oder Unheil der Menschen.“ Und der Rat der EKD sagt: „Das Bekenntnis zu Jesus Christus wird missbraucht, wenn es zur Entscheidung über offene politische Wege verwendet wird.“
Viele Christinnen und Christen – besonders jüngere - reagieren irritiert und ablehnend auf solche Sätze angesichts einer Situation, in der sie sich so sehr durch die „Nachrüstung“ bedroht sehen.
Bischof Lohse jedoch sieht sich in anderer Hinsicht bedroht:
„Eine Flut von Briefen mit Äußerungen unterschiedlichster Art gingen bei mir ein, am Telefon wurden Beschimpfungen laut, und es kam sogar zu persönlichen Drohungen. Demgegenüber ruhige Geduld zu bewahren, war nicht immer ganz einfach.“
Der Konflikt jedoch kommt auch an der „Basis“ an: Mit erheblicher Öffentlichkeitswirkung tritt die große Reformierte Gemeinde Bielefeld aus dem Reformierten Bund aus. Nicht wenige Einzelmitglieder verabschieden sich. Andere Gemeinden verweigern ihre Mitgliedsbeiträge oder ignorieren das Moderamen.
Die theologische Speerspitze gegen die Friedenserklärung bildet der aus dem reformierten Wittgensteiner Land kommende Berliner Neutestamentler Walter Schmithals (KiHo Berlin). Er zeigt in der Konsequenz seiner bultmannschen Theologie auf, wie wenig nach seinem Verständnis man vom Neuen Testament aus zu einem „Nein ohne jedes Ja“ oder zum status confessionis in einer politischen Frage kommen könne. Schmithals und seine Anhänger formulieren dabei eine rigorose Zwei-Reiche-Lehre, wie sie sonst allenfalls im konservativen Luthertum zu hören ist.
Die Darstellung der Kritik mag den Eindruck erwecken, dass das Moderamen eine Minderheitenposition zu Papier bringt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Zahl der zustimmenden Gemeinden und ihrer „Einzelmitglieder“ wächst immer mehr. Und der status confessionis in der Nuklearwaffen-Frage findet auch über den konfessionellen Rahmen hinaus Gehör und Akzeptanz.
IV Hatten wir Recht?
Aus dem vierzigjährigen Abstand heraus ist schwer zu verstehen, wie derart aufgebracht und zugespitzt in der Kirche gestritten wird. Man muss sich dazu vergegenwärtigen, wie aufgeheizt die politische Diskussion in West und Ost um die Raketenrüstung insgesamt ist. Sie ist schon längst in eine ideologische, grauenvolle Auseinandersetzung abgeglitten. Der Präsident der USA, Ronald Reagan, bezeichnet Moskau als das „Zentrum des Bösen“ und meint vor einer großen Versammlung Evangelikaler, wir würden die große apokalyptische „Schlacht bei Armageddon“.
Das ist-nach Offenbarung 16, 16 der mythische Ort der letzten Entscheidungsschlacht, die als ein katastrophales, politisches, kriegerisches Ereignis über die ganze Welt kommen solle. Viele Menschen im Inland und in Europa, auch in den USA, stehen in der Furcht, dass der sog. Ost-West-Konflikt, der kalte Krieg aus der Zone politischen Machtauseinandersetzung heraustreten und zu einem militärischen Konflikt eskalieren würde, in dem der Einsatz von atomaren Waffen auch auf deutschem Boden nicht nur denkbar, sondern auch höchst wahrscheinlich werde.
Heute lässt sich wissen: Es wird alles in Ost und West mit den neuen Raketen auch genauso geplant und kalkuliert, wie es die Friedensbewegung [und in ihr das Moderamen] befürchten und analysieren. Erst mit dem unvorhergesehenen Michail Sergejewitsch Gorbatschow (1985), der durchaus als eine providentia DEI specialissima (eine besondere Vorsehung Gottes) angesehen werden kann, wird die atomare Bedrohung im Kalten Krieg aus dem Feuer genommen.
V Mangelhaft
Nun enthält jedoch die Moderamenserklärung einen theologischen Mangel, der uns heute einsehen lässt im grellen Licht erscheint. Sie findet sich in den Erläuterungen zur These I. Dort heißt es:
„Wie im Kirchenkampf die ‚Judenfrage‘ zu Bekenntnisfrage wurde, so stellt uns heute das Gebot des Bekennens in der Frage des Friedens und seiner Bedrohung durch die atomaren Massenvernichtungsmittel in den status confessionis …“
Ich halte inzwischen unsere damalige Parallelisierung von Holocaust und Atomwaffenbedrohung für unzulässig und schlimm. Sie wirft einen Schatten auf die Erklärung. Die Judenvernichtung in der Nazizeit ist ein einzigartiges Verbrechen, das nicht als didaktisches, belehrendes Beispiel in der Atomwaffenfrage instrumentalisiert werden durfte. Wir hätten das so nicht parallelisieren dürfen. Schlecht.
VI Kirchen in der DDR (1987) und Vollversammlung des Ökumenischen Rates (1983)
Das „Bekennen in der Friedensfrage“ aber wird nun damals nicht im Westen Deutschlands angegangen, sondern im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Die Protestanten im Westen, die das „Nein ohne jedes Ja“ als Bestandteil ihres Glaubensbekenntnisses in Kopf und Herz trugen, schauten erstaunt – und wohl auch neidisch – in die DDR. Dort machen die Gemeinden, Synoden und Kirchenleitungen die Grabenkämpfe um die rechte Auslegung eines „status confessionis“ nicht mit. Sie sprechen vielmehr nach Beratungen aus, was beispielgebend die Bundessynode zu Görlitz 1987 wahrnimmt.
„Wir bekennen: Gott befreit uns durch Jesus Christus aus der Knechtschaft der Angst, die eine Folge der Sünde ist. Er befreit von Abhängigkeit und Unterdrückung. Daraus folgt: kein Mensch und keinStaat darf durch Drohung mit Massenvernichtungsmitteln Angst und Abhängigkeitsverhältnisse schaffen, um sich so seinen Frieden zu erkaufen und Macht auszuüben.“
Heute ist der Bund der Evangelischen Kirche in der DDR Teil der EKD. Und die EKD insgesamt steht in der Pflicht der Bundessynode zu Görlitz ’87. Entziehen sich der Rat der EKD und die Synode nicht dieses Erbes?
Schon 1983 allerdings spricht die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver auch das Unvermeidbare aus:
„Wir glauben, dass für die Kirchen die Zeit gekommen ist, klar und eindeutig zu erklären, dass sowohl die Herstellung und Stationierung als auch der Einsatz von Atomwaffen ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellen.“
Zweiter Teil: Gibt es eine Fortschreibung der Reformierten Friedenserklärung im Horizont des Russland-Ukraine-Kriegs (2023)?
VII auf einmal …
Auf einmal ist durch den Russland-Ukraine-Krieg der Einsatz von Atombomben wieder eine reale und nahe Zerstörungs- und Todesgefahr. Putin, Labrow, Medwedew und hohe russische Militärs drohen permanent mit dem Einsatz der Atomwaffen. Der amerikanische Präsident Biden droht zurück. Russland ist hinsichtlich der nuklearen Ausrüstung das weltweit stärkste und – mit Nordkorea – auch das rücksichtsloseste Land. Und darin hat Putin aller Wahrscheinlichkeit nach recht: Die Drohung mit der nuklearen Bewaffnung ist kein “Bluff“.
Inzwischen rückt der Zeiger der Uhr der internationalen Nuklearwissenschaftler, die Doomsday Clock, auf 44 Sekunden vor Mitternacht. In der 73-jährigen Geschichte dieser symbolischen Weltuntergangsuhr waren wir nach Meinung der Atomwaffen-Gelehrten nie näher an der atomaren Katastrophe dran wie gegenwärtig. Die Doomsday Clock tickt und schreitet voran, noch näher ans Desaster. Selbst Präsident Biden spricht vom drohenden „Armageddon“. Das ist die endzeitliche militärische Katastrophe, die zum Weltuntergang führt (Offenbarung des Johannes 16, 16). Das müssen wir zur Kenntnis nehmen und uns nicht vertrösten mit einem „So schlimm wird’s doch nicht werden.“
VIII Ein Nero-Befehl?
Meine größte Sorge ist, dass Putin im Angesicht einer großen militärischen Niederlage, die die Ukraine allein durch immer mehr westliche und stärkere Waffenlieferungen erstreiten könnte, den „Nero-Befehl“ ausgibt. Er führte uns letztlich alle in den nuklearen Abgrund - vor allem die Ukraine und Russland selber.
Der Name “Nero-Befehl” bezieht sich auf den “Großen-Brand” Roms im Juli 64 nach Christi Geburt. Es war in der Regierungszeit des als unbarmherzig und schrecklich geltenden Kaisers des Römischen Reiches Nero. Es heißt, Nero habe den römischen Stadtbrand selber gelegt und befeuert. Im Nero-Befehl habe er sogar Löschungen des Feuers verboten. Und seine Gnadenlosigkeit und Verwerflichkeit sei dadurch zu einem besonderen zynischen Ausdruck gebracht worden, dass er über den brennenden Dächern Roms die Leier gespielt habe. Wahrscheinlich ist das eine Legende. Aber der „Nero-Befehl“ ist zum Narrativ geworden.
Einen Nero-Befehl erlässt Hitler am 19.März 1945, also kurz vor seinem Selbstmord. Sein Befehl lautet, dass die letzten deutschen Soldaten ihre Heimat, ihre Dörfer und Städte, Weiden und Wälder und das ganze Deutschland selbst, auf eigene Faust vernichten und zerstören sollten. Was hätte Hitler wohl gemacht, wenn er den Nero-Befehl mit nuklearen Waffen selber hätte ausüben können?
Heute droht der Nero-Befehl in beiden Fällen: (A) Putin ist konzentriert und waghalsig. Er nimmt eine militärische Niederlage wahr – dann wäre der Nerobefehl konsequent. (B) Oder er ist nicht mehr bei Sinnen – dann wäre der Nero-Befehl noch wahrscheinlicher. -
IX Pazifistische Folgerungen
Die Folgerungen, die ich von daher hier vortrage, werden kirchlich und politisch ohne jede Beachtung und Wirksamkeit sein. Sie sind ohnmächtig, möglicherweise überflüssig. Sie sind radikal „daneben“. Viele werden sie auch in der Kirche eher für verrückt halten.
„Russland muss besiegt werden / die Ukraine muss immer stärkere Waffen“ bekommen, fordern auch Berliner Spitzenpolitiker. Wer den Krieg gegen den angeblichen Hitler-Wiedergänger Putin nicht alternativlos findet, ist – nur ein Beispiel - für den ehemaligen Kriegsdienstverweigerer und Mitglied des „Kommunistischen Bundes Westdeutschland“, des heutigen Grünen-Vordenkers Ralf Fücks ein „Unterwerfungspazifist“ [SPIEGEL 13. 7. 2022].
Allerdings ist die Diffamierung schon so vielen theologischen und kirchenpolitischen und politischen Texten passiert, dass es einen nicht wundern darf. Pazifisten dürfen nicht empfindlich und wehleidig sein. Und mit dem Vater des Programms eines gewaltlosen Widerstandes Theodor Ebert – langjähriges Mitglied der Kirchenleitung der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg – ist zu sagen:
„Wir Pazifisten können nicht einfach behaupten, wir hätten für alle Probleme die gewaltfreie Lösung, aber es gibt hinlängliche Gründe, sie zu suchen, ihnen nachzugehen und auf dem Wege der gewaltfreien Aktion die passenden Lösungen zu finden“.
Meines Erachtens sind es einige verwegene Annahmen und pragmatisch-pazifistische – im Unterschied zu gesinnungsethischen Totalinduktionen - Folgerungen, die sich 2023 ergeben aus der theologischen Verwerfung der Atomwaffen, wie sie etwa das Reformierte Moderamen 1982 und die Görlitzer Synode 1987 vorgenommen und bestimmt haben:
Die Atomwaffen sind in der Anwendung und schon in ihrer Bereitstellung ein unentschuldbares Verbrechen. Diejenigen, die sie lagern und ihre Anwendung üben und diejenigen, die sie gutheißen und einzusetzen bereit sind, begehen ein Verbrechen. Dieses Verbrechen exkommuniziert sie.
Ein „Nein ohne Ja“ und die Einordnung der Atomwaffen in ihrer Entwicklung, Bereitstellung und Anwendung als Verbrechen sind der Ausgangspunkt „Unsere Stellung zum Frieden reflektiert unsere Stellung zum Versöhner. Ich mache Gott zu einem Nichts, wenn ich die Sicherung des Friedens durch Atomwaffen befürworte“ (Rudolf Bohren 1983).
Die abschreckende Wirksamkeit von Atomwaffen wird oft mit dem Satz begründet: „Wer als erster schießt, stirbt als Zweiter.“ Heute muss der Satz lauten: „Auch wenn Einer als Erster schießt, darf der Zweite nicht mit Atomwaffen zurückschießen.“ Denn spätestens der atomare Rückschuss würde den ohnehin schon so versehrten Globus kollabieren lassen.
[Vom Ernst der Abschreckung durch Atomwaffen 1982 sagt vor vierzig Jahren – es stimmt immer noch - der Generalinspekteur der Bundeswehr Ulrich de Maiziere etwas Anderes: „Manche versuchen mit der Formel ‚Abschreckung ja – Verteidigung nein‘ das Dilemma zu überspielen. Dies aber ist in meinen Augen keine Lösung. Abschreckung kann doch nicht glaubhaft sein, wenn man zugleich zu erkennen gibt, dass man zur Verteidigung selbst nicht mehr bereit ist. Der Politiker und der militärische Führer können doch nicht zur Abschreckung die Waffen androhen, deren tatsächlicher Einsatz zugleich als ethisch nicht verantwortbar bezeichnet wird. Ich jedenfalls hätte mein Amt mit einer solchen Lüge (!) gegenüber den mir anvertrauten Soldaten und gegenüber der auf Sicherheit hoffenden Öffentlichkeit nicht führen können.“]
X Wie teuer?
Zu fragen ist: Wie hoch und wie teuer darf der Preis denn sein? Mit welcher Endabsicht wird im Ukraine-Krieg mit Hilfe westlicher Waffenlieferungen gekämpft? Was ist das Ziel? Heute sind es schon 120.000 Soldaten-Opfer auf beiden Seiten des Krieges. (So der US-Generalstabschef Mark Milley.) Und unzählbare Zivilisten sind dahingerafft. Bis zu welchen Zahlen und Mitteln dürfen schwere Waffen geliefert und mit ihnen Krieg geführt werden? Auch hinsichtlich der Mitteldinge der „taktischen Atomwaffen“ kann es keine Beruhigung geben. Jede einzelne von ihnen hat eine Zerstörungskraft, die die Zerstörung von Hiroshima übertrifft.
Das heißt nun konkret: Auch wenn Putin mit Atomwaffen droht, darf „der Westen“ nicht zurückdrohen und den atomaren Gegenschlag ausführen. Spätestens ein Gegenschlag wird ein solches Inferno auslösen, das die ganze Erde beträfe und in jeder Hinsicht unvertretbar wäre. Schon jetzt muss darum das „Nein ohne Ja“ auch in dieser Hinsicht ausgesprochen werden: Kein Zweitschlag! Das Übel ist unvorstellbar schrecklicher als ein waffenloser Widerstand.
Noch eins: Der Kampfjet Tornado ist seit 1981 in der deutschen Luftwaffe im Einsatz. Neue Atombomber sollen in kürzerer Zeit angeschafft werden – bis zu 35 „F-35“ amerikanische Flugzeuge. Die Bundeswehr übt dauernd – auch wenn sie nicht Mitglied der Nuklearmächte ist - nicht nur über Rheinland-Pfalz atomare Einsätze. Und sie bestätigt eine bis Februar 2026 dauernde Sanierung der Landebahn in Büchel.
Die alten und die neuen Flugzeuge sind deutsche Trägersysteme für amerikanischen Atomwaffen. Deshalb ist die Entscheidung für ein Tornado-Nachfolgemodell zugleich auch eine Entscheidung über die weitere nukleare Teilhabe Deutschlands. Die neuen Tornados sind unvorstellbar teuer. Geht diese „nukleare Teilhabe“ im Russland-Ukraine-Krieg auch so weit, dass die fliegenden Atomwaffen ihre Möglichkeiten auch ausüben – mit deutscher Hilfe? Von Deutschland aus gestartete Atombomben – auf Moskau?
Deshalb müssten - ich bin mir im Klaren über die Verrücktheit dieser Forderungen - die Tornado-Piloten des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33 am Atomwaffenstandort Büchel zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen werden. Sie sollten mit der Beihilfe der Römisch katholischen Kirche und der Evangelischen Kirche erklären, dass sie sich an der Unterstützung der nuklearen Teilhabe Deutschlands aus Gewissensgründen nicht länger beteiligen können.
XI Bischöfliche Sätze? Pragmatischer Pazifismus?
Und was würde wohl geschehen, wenn die Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Dr. Annette Kurschus oder der Bischof der EKBO Dr. Christian Stäblein im Blick auf die F-35 und die (vorerst „nur“ ) 100 Milliarden für die Bundeswehr öffentlich und laut den einen wichtigen Satz der Friedenskundgebung der EKD-Synode (Marburg November 2022) sagten:
“Einem drohenden neuen Rüstungswettlauf, der die Fragilität des internationalen Systems weiter erhöhen würde, treten wir entschieden entgegen.“
In der Ukraine und erst recht in Russland gibt es nicht wenige Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer. So sie nicht im Gefängnis sind, ist auf ihre Stimme zu hören. [S.: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 1/2023 S. 52] Zusammen mit ihnen wäre im Geist eines pragmatischen Pazifismus zu sagen:
- widerstand ja, aber gewaltbegrenzend
- darum: weniger angriffswaffen
- mehr defensivwaffen
- mehr humanitäre unterstützung der ukraine
- flüchtlinge aufnehmen, mehr geld dafür
- wirtschaftliche sanktionen wie sie geschehen
- intensivste diplomatische bemühungen
- feuerpause
- unbedingt verhandlungen (auch mit putin)
- veränderungen mit gewaltlosen mitteln
- wie bei den friedlichen revolutionen 1989 im ostblock
- kirchliche parteinahme
- verabscheuung des moskauer patriarchen der orthodoxen kirche und kriegspredigers kyrill.
In diesem Sinne und auf dieser Linie haben sich die Friedensbauftragten der EKD Renke Brahms (seit 2008) und Friedrich Kramer (seit 2022) immer wieder geäußert. Immer wieder waren und sind sie zwei Lichtblicke. Sehe ich es aber recht, hat sich in der letzten Dekade nur ein namhafter evangelischer Hochschullehrer - vom Universitätskatheder aus - wieder zur Ethik der nuklearen Waffen geäußert. Er verdient es, im Zusammenhang zitiert zu werden:
XII Jürgen Moltmann - Das nukleare Selbstmordprogramm
Als die Atombomben erfunden und im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, endet nicht nur der Zweite Weltkrieg, das ganze Menschengeschlecht trat auch in seine Endzeit ein. Das ist ganz unapokalyptisch gemeint: Endzeit ist das Zeitalter, in dem das Ende des Menschengeschlechts jederzeit möglich ist. Durch die Möglichkeit eines großen Atomkriegs wurde das Menschengeschlecht im Ganzen sterblich
Den nuklearen Winter nach einem großen Atomschlag kann kein Mensch überleben. Zwar ist seit Ende des „Kalten Krieges“ 1989 ein großer Atomkrieg zur Zeit nicht sehr wahrscheinlich, aber immer noch stehen riesige Arsenale mit Atom-und Wasserstoffbomben in den USA, in Russland, China, England, Frankreich, Indien, Pakistan, Israel und Nord-Korea zur Selbstvernichtung der Menschheit bereit.
Das ist die „mutually assured destruction“, die paradoxerweise seit 1945 den Weltfrieden sichert. Das ist ein latentes, aber stets präsentes „Selbstmordprogramm“ der Nationen, wie der russische Atomwissenschaftler Sacharow es treffend nannte, das viele vergessen haben, weil sie aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde. Präsident Obama erinnerte in Prag seinerzeit an das Ideal einer atomwaffenfreien Welt, aber Präsident Putin pries 2018 die neuen Waffen Russlands und Präsident Trump löste den IFN Vertrag über ein Verbot von atomaren Kurzstreckenraketen in Europa auf, das Reagan und Gorbatschow 1987 ausgehandelt hatten. Die neue atomare Aufrüstung hat begonnen.
Neu sind die Trägerraketen, die die Warnzeiten auf ein Minimum reduzieren. Der große Atomkrieg hängt wie ein dunkles Schicksal über der Menschheit, und wir spüren seine Wirkungen auf das öffentliche Bewusstsein in dem, was die amerikanischen Psychologen das »nuclear numbing« nennen, atomare Betäubung und Vergessenheit. Wir verdrängen unsere Angst. Diese Bedrohung zu vergessen, und leben so, als gäbe es diese Gefahr nicht. Und doch nagt sie an unserem Unterbewusstsein und verletzt unsere Liebe zum Leben.
Kommt es zu einer Vereinbarung der Nationen über eine „atomwaffenfreie Welt“ oder bedrohen die Nationen sich gegenseitig weiter mit dem nuklearen Mord der Menschheit?
[Aus seinem jüngsten Buch: Jürgen Moltmann, Politische Theologie der modernen Welt, 1. Aufl. Gütersloh 2021, Kapitel V. Die großen Alternativen: 1. Übersicht: Ein Kultur des Lebens in den tödlichen Gefahren dieser Zeit, 1.1 Terror des Todes – DAS NUKLEARE SELBSTMORDPROGRAMM, S. 164-165]
XIII Auch Papst Franziskus
„Unsere Welt lebt in der abartigen Dichotomie, Stabilität und Frieden auf der Basis einer falschen, von einer Logik des Misstrauens gestützten ‚Sicherheit‘ zu verteidigen und sichern zu wollen. Aus tiefer Überzeugung möchte ich bekräftigen, dass der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken heute mehr denn je ein Verbrechen ist, nicht nur gegen den Menschen und seine Würde, sondern auch gegen jede Zukunftsmöglichkeit in unserem gemeinsamen Haus. Der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken ist in jeder Hinsicht unmoralisch, wie ebenso der Besitz von Atomwaffen in jeder Hinsicht unmoralisch ist. Wir werden darüber von Gott gerichtet werden.“ (Papst Franziskus am 24. November 2019 am Friedensdenkmal in Hiroshima).
XIV Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche: Eine Erklärung des mModeramens des Reformierten Bundes (1982)
I
Jesus Christus ist unser Friede. In seinem Tod am Kreuz und in seiner Auferstehung von den Toten hat Gott die ganze gottfeindliche Welt mit sich versöhnt und alle Menschen unter den Zuspruch und Anspruch seines Friedens gestellt. Dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn gehört alle Macht im Himmel und auf Erden. Er hat seine Gemeinde in die Welt gesandt, das Wort von der Versöhnung auszurichten, seinen Frieden zu bezeugen und im Gehorsam gegen sein Wort Frieden zu halten mit allen Menschen. Sein Friede, den die Welt nicht geben, nicht sichern oder zerstören kann, befreit und verpflichtet dazu, für den Frieden unter den Menschen zu beten, zu denken und zu arbeiten. Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit der Meinung, die Frage des Friedens auf Erden unter den Menschen sei eine politische Ermessensfrage und darum unabhängig von der Friedensbotschaft des Evangeliums zu entscheiden.
Angesichts der Bedrohung des Friedens durch die Massenvernichtungsmittel (A-B-C Waffen und konventionelle Massenvernichtungswaffen) haben wir als Kirche meist geschwiegen oder nicht entschieden genug den Willen des Herrn bezeugt. Jetzt, da stärker als zuvor die Möglichkeit des Atomkriegs zur Wahrscheinlichkeit wird, erkennen wir: Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist für uns der status confessionis gegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernichtungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.
II
In Jesus Christus hat Gott allen Menschen Frieden gewährt. In der Versöhnungstat Jesu Christi begründet er die neue Wirklichkeit: Die ganze Welt ist mit Gott versöhnt. In dieser Wirklichkeit leben wir. Ihr sollen wir durch unser ganzes Leben im Glauben und im Gehorsam entsprechen.
Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit aller lebensbedrohenden Feindschaft unter den Menschen und allen ideologischen Feindbildern, mit denen eine bislang ungebändigte Aufrüstung begründet wird. Feindschaft, Bereitschaft zur Vernichtung und Vergeltung, Haß und Menschenfurcht leugnen die Wirklichkeit der Versöhnung der Welt mit Gott, deren Wahrheit Gott in der Auferstehung des Gekreuzigten offenbar gemacht hat.
Im Vertrauen auf die auch unseren Feind einschließende Versöhnungstat Jesu Christi wollen wir alle Taten des Unfriedens, allen verzerrten Bildern von Menschen und Völkern und darum auch allen mit solchen Feindbildern gerechtfertigten Massenvernichtungsmitteln den Abschied geben. In Christus sind wir alle mit Gott und darum auch miteinander versöhnte Menschen, die sich nicht wie Unversöhnte meiden, bedrohen, abschrecken oder gar vernichten dürfen.
III
Gott ist der Schöpfer und Erhalter der Welt. Trotz unserer Schuld hält und erneuert er in Treue den Bund mit uns Menschen und gibt nicht preis die Werke seiner Hände. Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit der Entwicklung, Bereitstellung und Anwendung von Massenvernichtungsmitteln, die den von Gott geliebten und zum Bundespartner erwählten Menschen ausrotten und die Schöpfung verwüsten können. Im Vertrauen auf den Gott des Bundes und der Treue wollen wir uns nicht länger von solchen "Waffen" umgeben, "schützen" und gefährden lassen.
IV
Gott verbindet in Christus seinen Frieden mit der Verheißung und dem Gebot menschlicher Gerechtigkeit. Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit der Bejahung oder auch nur Duldung eines "Sicherheitssystems", das auf Kosten der Hungernden und Elenden der Erde und um den Preis ihres Todes erhalten wird. Im Gehorsam gegen den Gott des Friedens und der Gerechtigkeit wollen wir uns einsetzen für einschneidende Kürzungen der Rüstungshaushalte zugunsten der Armen. Im Vertrauen auf ihn sind wir bereit zu ersten, auch einseitigen Schritten der Abrüstung, deren politische Durchsetzung wir fordern und voranbringen wollen. Solche ersten Schritte sind:
- die grundsätzliche Verpflichtung, Konflikte ohne Anwendung oder Androhung von Gewalt lösen zu wollen,
- der Verzicht auf immer neue Waffen,
- der sofortige Einhalt der Entwicklung und Stationierung neuartiger Massenvernichtungsmittel,
- die Verpflichtung, die vorhandenen Massenvernichtungsmittel in einem Krieg nicht anzuwenden und erst recht nicht als erster einzusetzen,
- die Einrichtung kernwaffenfreier Zonen,
- kalkulierte, einseitige Abrüstungsmaßnahmen,
- das Verbot und die Verhinderung der Rüstungsexporte.
V
Jesus Christus, der Sohn Gottes, ist der eine und einzige Herr, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Sein Gebot ist Maßstab und Grenze auch aller innerweltlichen, politischen Verantwortung der Christen. Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit der Auffassung, die Lösung des Problems der notwendigen und angemessenen Machtmittel des Staates sei allein dem politischen Ermessen und der "praktischen Vernunft" vorbehalten und es könne für Christen dabei keine eindeutige Entscheidung geben, die sich von ihrem Glauben her hinreichend begründen ließe.
Im Glaubensgehorsam gegen Jesus Christus sagen wir: Auch für staatliche Machtmittel gibt es eine durch das Gebot des Herrn gesetzte Grenze, die nicht überschritten werden darf. Massenvernichtungsmittel sind keine angemessenen und notwendigen Machtmittel, mit denen ein Staat potentielle militärische Gegner abschrecken und im Kriegsfall bekämpfen darf. Es ist zwar Aufgabe des Staates, für Recht und Frieden zu sorgen und das Leben seiner Bürger zu schützen. Aber Massenvernichtungsmittel zerstören, was sie zu verteidigen vorgeben. Ihnen gilt von seiten der Christen ein aus dem Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer, Versöhner und Erlöser gesprochenes bedingungsloses "Nein!", ein "Nein ohne jedes Ja".
VI
Jesus Christus, der für uns gekreuzigte und auferstandene Herr, ist gegenwärtig in der Kraft des Heiligen Geistes. Unter seiner Herrschaft, die sich ohne Gewalt durchsetzt, und unter seiner Leitung, die niemanden zwingt, gewinnen wir Hoffnung und Zuversicht. Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit aller Hoffnungslosigkeit und Passivität angesichts der ungeheuren Bedrohung und der oft aussichtslos erscheinenden Mühe um die Bewahrung des Friedens.
Im Vertrauen auf die Herrschaft Jesu Christi und in der Kraft des Heiligen Geistes wollen wir uns nicht entmutigen lassen, für den Frieden zu beten, zu denken und zu arbeiten. Da Jesus Christus der Versöhner und Herr der ganzen Welt ist und seine Herrschaft nicht an den Grenzen der christlichen Gemeinde aufhört, arbeiten wir auch mit Menschen zusammen, die keine Christen sind. Der tröstenden Macht seines Geistes befehlen wir uns an, wenn der Weg des Friedens ins Leid und ins Kreuz führt.
VII
Gott wird die in Christus beschlossene Versöhnung mit der Wiederkunft des Herrn vollenden und einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, in denen Gerechtigkeit und Frieden ohne Ende wohnen. Steht diese Vollendung des Heils auch noch aus, so wird sie doch - von Gott in der Auferstehung des Gekreuzigten verbürgt und von ihm bestimmt - kommen und mit der Auferweckung aller Toten und dem letzten Gericht anheben.
Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit allem aufgeregten, ziellosen Aktivismus, allem blasphemischen Spekulieren über die "Schrecken der Endzeit", allem Desinteresse an den Fragen der Friedenserhaltung und aller politischen Gleichgültigkeit hinsichtlich der Entwicklung der Welt.
In der Hoffnung auf den wiederkommenden Herrn sind wir frei zu vorläufigen, auch unvollkommenen, aber tapferen und entschiedenen Schritten für den Frieden. Vor ihm als dem letzten Richter über unser Leben werden wir Rechenschaft darüber ablegen müssen, was wir mit den jeweils eigenen Gaben dazu beigetragen haben, Widerstand gegen die Bedrohung zu leisten, die atomare Katastrophe zu verhindern und seinen Frieden in Wort und Tat zu bezeugen.
Karl Rahner: Gebet um Frieden
Heiliger Schöpfer der Welt und der Erde mit ihren Menschen. Du hast gewollt, dass die Menschheit sich bin zu einem Punkt entwickle, an dem sie nicht nur dieses, jenes und vieles Böses in ihrer Geschichte begehen kann und immer wieder schrecklich begeht, sondern an dem sie sich in einem globalen Suizid selbst zu vernichten vermag. Hättest du nicht diese Möglichkeit der Evolution verhindern können, wenn doch die Geschichte der Menschheit (wie wir hoffen, hoffen müssen) in deinem Licht und deinem Frieden enden soll, der mehr ist als alle Etappen einer weiter gehenden Entwicklung? Oder bekennt gerade diese letzte Möglichkeit allein eindeutig, wer du bist und wer wir sind, weil die höchste Höhe der Kreatur unerbittlich zum höchsten Absprung in das restlose und sogar vorhersehbare Verderben wird?
Vielleicht schaudert dir vor diesem globalen Selbstmord gar nicht, weil du ja (hoffentlich milden Ge-richts) den Taten Kains am Anfang und jedem Suizid zu allen Zeiten zusiehst. Aber wir, deine Kreaturen, haben nicht das Recht, diesen universalen Brudermord, unseren globalen Selbstmord zu wollen oder durch unsere Indolenz zuzulassen. Es gibt Möglichkeiten, nicht nur Wirklichkeiten, die so entsetzlich sind, dass auch nur ein lässiges Hinnehmen, ein Damitrechnen die Hölle verdient. Du hast die Menschheit in ihrer ganzen Geschichte in Massenwahn und auf Irrwege rennen lassen, bei denen uns nichts übrig bleibt, als weinend niederzufallen vor unserem Gott, der uns gemacht hat. Und niemand weiß genau, ob gerade im menschlich Schrecklichsten oder im bloß scheinbar Harmlosen das Schrecklichste sich ereignet, das dein verzehrendes Gericht trifft.
Dazu hast du verkündet (so, dass es uns interessieren muss), dass ein Ende der Menschheitsgeschichte auf jeden Fall von dir gewollt und herbeigeführt werden wird. Aber, o Gott allen Erbarmens, muss ich wirklich damit rechnen, dass die Menschheit ihr Ende durch Selbstmord herbei führt? Selbst wenn wir eine solche Irrtat noch einmal deinem Gericht überlassen müssten, so wäre dieser globale Selbstmord - verursacht durch wenige, die für alle verantwortlich sind – doch objektiv die äußerste Sünde, der globale Widerspruch zu deinem Schöpferwillen, der will, dass wir seien und unsere uns auferlegte Existenz als Gabe einer unermesslichen Liebe entgegennehmen.
O Gott, dieser Suizid wäre zwar unsere Tat, die du weit von dir abweisen könntest. Aber unsere Freiheit samt ihrer Kurzsichtigkeit und Verblendung, samt allem Massenwahn, samt aller Hybris, die mit den äußersten Möglichkeiten spielt, liegt doch nochmals in der souveränen Macht deiner eigenen Freiheit, deiner grundlosen Verfügung. Gestatte, du Gott der Erbarmungen, dass diese erbarmungswürdig kleine Kreatur doch an deine eigene Verantwortung appelliert. Es ist nur zu wahr, dass wir selbst alles tun müssen, was möglich ist, um den atomaren Selbstmord der Menschheit als Wirklichkeit und (beinahe noch wichtiger!) schon als Möglichkeit zu verhindern, ohne uns der fatalen Rabulistik des Friedens durch atomares Gleichgewicht des Schreckens zu ergeben, ohne zu meinen, man könnte dem letzten Schrecken entgehen durch bloße rationale Verhandlungen zwischen zwei gleichstarken Egoismen, ohne den Mut zur Torheit der Bergpredigt und der Liebe deines Sohnes am Kreuz.
Aber dennoch, Gott des Erbarmens, rufe ich dich und dein Erbarmen an. Wenn du willst, vernichte uns und ende die schmutzig-mündige Geschichte der Menschheit. Abe hast du diese Geschichte durch Millionen von Jahren nur anlaufen lassen, um sie zwei Jahrtausende nach der Versöhnung der Welt am Kreuz deines Sohnes zu beenden, obwohl wir meinen können, sie fange jetzt erst recht an im Lichte deines Evangeliums? Lass die Menschheit noch leben, sie kann dir noch auf ganz neue Weise danken für deine große Herrlichkeit.
Gib darum allen Menschen überall den Mut und die Tapferkeit, einzutreten für den Frieden und für eine wirkliche Abrüstung. Gib der Kirche den Mut, nicht weise zu lehren, wie man die Egoismen der Menschen untereinander schlau versöhnen könne, sondern wie man für selbstlose Gerechtigkeit und mit der Torheit des Kreuzes für den Frieden eintreten muss und kann. Kehre das Herz der Mächtigen um, damit sie nicht lügnerisch Machtstreben für berechtigte Selbstverteidigung ausgeben, nicht sich und andere täuschen, indem sie sagen, sie dienten dem Frieden durch immer höher vorangetriebene Aufrüstung. Und schließlich: Lehre uns, in unserem eigenen Leben selbstlos den Frieden zu fördern.
(Aus: Karl Rahner, Gebete des Lebens, Herder – Freiburg im Breisgau, 2004, S. 149 - 151)
Rolf Wischnath