Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Nielsen, Merete: Marie Dentière,
Trinitatis: Joh 3,1-8 - Nikodemus
von Johannes Calvin
1 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit dem Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. 2 Der kam zu Jesus bei der Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn niemand kann Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist.
V. 1. „Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus...“ In der Person des Nikodemus stellt uns jetzt der Evangelist vor Augen, wie flüchtig und hinfällig der Glaube der Leute war, die der Wunder wegen plötzlich Christus die Ehre gegeben hatten. Da Nikodemus zu den Pharisäern gehörte und zu den führenden Männern seines Volkes, hätte er hoch über den anderen stehen müssen. Im Volke herrscht ja meist Oberflächlichkeit. Wer aber hätte nicht geglaubt, daß dieser besonders gelehrte und erfahrene Mann ein ernster und beständiger Mensch sei? Und doch wird aus Christi Antwort deutlich, daß er keineswegs mit der Bereitschaft gekommen war, die Anfangsgründe der Frömmigkeit zu lernen. Wenn aber einer der Ersten unter den Erwachsenen weniger weiß als ein Kind, was kann man da vom gewöhnlichen Volk erwarten? Obwohl uns aber der Evangelist wie in einem Spiegel zeigen wollte, wie wenige wirklich in Jerusalem dazu imstande waren, das Evangelium aufzunehmen, ist diese Geschichte doch auch noch aus anderen Gründen für uns besonders wichtig; denn in ihr werden wir vor allem über die verderbte Natur des Menschengeschlechtes belehrt und darüber, wie man sich richtig in Christi Schule begibt und wie wir nach rechtem Anfang fortschreiten müssen in der himmlischen Lehre. Das Ergebnis des Gesprächs besteht darin: wir müssen neue Menschen werden, um Christi wahre Jünger zu sein. Bevor wir aber weitergehen, müssen wir aus den Umständen, die der Evangelist hier berichtet, ausführlich darlegen, welche Hindernisse Nikodemus im Wege standen, sich Christus ganz hinzugeben. Der Umstand, daß Nikodemus Pharisäer war, ehrte ihn in den Augen der Seinen; aber der Evangelist sagt das von ihm nicht um der Ehre willen; vielmehr erkennt er darin ein Hindernis, freimütig und vorurteilslos zu Christus zu kommen. So werden wir daran gemahnt, daß gerade die Großen der Welt mit den stärksten und verderblichsten Banden gefesselt sind; ja, wir sehen, viele haben sich so verstrickt, daß sie ihr ganzes Leben lang auch nicht das geringste Verlangen nach dem Himmel haben. - Die Pharisäer rühmten sich, die alleinigen Ausleger des Gesetzes zu sein, so als ob sie das tiefste Geheimnis der Heiligen Schrift kennten. Den Essenern trug zwar ihr strengerer Lebenswandel den Ruf der Heiligkeit ein, da sie wie Einsiedler sich von den allgemeinen Lebensgewohnheiten ausschlössen; aber die Sekte der Pharisäer stand doch in größerem Ansehen.
V. 2. „Der kam zu Jesus bei der Nacht ...“ Aus seinem nächtlichen Besuch erkennen wir seine allzu große Ängstlichkeit. Seine Augen waren gleichsam von seinem eigenen Glänze geblendet. Auch schämte er sich wohl, wie ehrsüchtige Menschen ja glauben, es sei um ihren Ruf geschehen, wenn sie einmal vom hohen Katheder herabsteigen und sich unter die Lernenden einreihen. Es besteht gar kein Zweifel daran, daß ihn eine törichte Überzeugung von seiner eigenen Weisheit erfüllte. Da er sich groß dünkte, wollte er sich nichts vergeben. Und doch trug er in sich ein kleines Samenkorn der Frömmigkeit; denn als er hörte, ein Prophet Gottes sei erschienen, mißachtete er diese vom Himmel gesandte Nachricht nicht, sondern ihn erfaßte ein Verlangen danach, und dieser Drang stammte nur aus seiner Ehrerbietung und Gottesfurcht. Viele kitzelt bloße Begierde, Neuigkeiten nachzugehen; aber Nikodemus trieben ohne Zweifel heilige Scheu und gewissensmäßiges Empfinden zu dem Wunsche, Christus kennenzulernen. Obwohl jenes Samenkorn lange wie tot im Verborgenen ruhte, brachte es doch nach Christi Tode Frucht, wie niemand sie je erwartet hätte. Die Worte „Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen“, bedeuten soviel, als wenn er gesagt hätte: „Lehrer, wir wissen, daß du als Lehrer gekommen bist." Nun wurden damals Schriftkundige allgemein als Lehrer angeredet. Also gibt Nikodemus Christus diesen üblichen Titel zuerst als die gewöhnliche Grußanrede; darauf aber versichert er, er sei von Gott gesandt, das Lehramt auszuüben. Und hierauf gründet jedes Ansehen der Lehrer in der Kirche. Denn da wir allein aus Gottes Wort unser Wissen nehmen müssen, darf man nur auf die hören, durch deren Mund Gott redet. Obwohl bei den Juden die Religion sehr verderbt und nahezu zerstört war, muß man beachten, daß sie an dem Grundsatz immer festhielten: nur der war ein echter Lehrer, der von Gott kam. Doch da gerade die falschen Propheten sich besonders stolz und selbstsicher mit einem Auftrage von Gott brüsten, so tut hier die Kraft der Unterscheidung not, um mit ihr die Geister zu prüfen. Daher fügt Nikodemus hinzu, es stehe ganz fest, daß Christus von Gott gesandt sei; Gott offenbare ja seine Kraft in ihm so machtvoll, daß man nicht leugnen könne, er sei mit ihm. Er nimmt es also für gewiß, daß Gott durch seine Diener Wunder zu wirken pflege, um so dem Amt, das er ihnen auferlegt habe, sein Siegel aufzudrücken. Das ist keineswegs eine leere Vermutung, da nach dem Willen des Herrn Wunder immer die Bestätigung seiner Lehre waren. Mit Recht auch macht Nikodemus Gott zum einzigen Urheber der Wunder, indem er sagt, niemand könne ohne Gottes Beistand diese Zeichen tun. Das ist dasselbe wie die Versicherung, kein Mensch tue das, sondern hier herrsche und offenbare sich die Kraft Gottes. Die Frucht der Wunder ist also doppelt: einmal bereiten sie dem Glauben den Weg, zum andern stärken sie ihn, nachdem er aus Gottes Wort empfangen ist. Das erste traf für Nikodemus zu; denn er erkannte auf Grund der Wunder Christus als wahren Propheten Gottes. Doch scheint solche Erkenntnis keine hinreichende Festigkeit zu enthalten. Wenn einmal falsche Propheten unerfahrene Leute mit ihrem Trug dadurch irreführen wollen, daß sie ebensolche Wunder tun wie die, wodurch Gottes Diener sich ausweisen, wie soll man dann zwischen Trug und Wahrheit unterscheiden können, wenn der Glaube auf nichts ruht als auf Wundern? Mose verkündet 5. Mose 13, 3 mit beredten Worten, so würden wir auf die Probe gestellt, ob wir Gott wahrhaft liebten. Bekannt sind auch die Mahnungen Christi und des Paulus, die Gläubigen sollten sich vor lügnerischen Zeichen hüten, mit denen der Antichrist vieler Augen verblende (Matth. 24, 24). Ich sage dazu: Gott hat allerdings in seiner Gerechtigkeit die Erlaubnis gegeben, daß durch Satans Blendwerk die getäuscht werden, die es verdienen. Aber ich behaupte, dies sei kein Hindernis, daß Gottes Kraft seinen Auserwählten in Wundern sich offenbare und daß sie für diese einen nicht zu verachtenden Beweis der wahren und reinen Lehre darstellen. So rühmt sich Paulus 2. Korinther 12, 12, sein Apostelamt sei durch machtvolle Zeichen bestätigt worden. Wie sehr also Satan im Finstern sich als Affe Gottes brüstet, wenn die Augen offen sind und das Licht des Geistes und seiner Klugheit aufleuchtet, so bezeugen Wunder die Gegenwart Gottes deutlich genug, wie Nikodemus hier rühmend verkündet.
V. 3. „Jesus antwortete und sprach zu ihm ...“ Jesus wiederholt „wahrlich“, um die Aufmerksamkeit des Nikodemus zu erregen. Er will jetzt über die weitaus ernsteste und wichtigste aller Fragen sprechen, und da muß er Nikodemus unbedingt zum genauesten Aufmerken veranlassen; sonst hätte er vielleicht dem Gespräch keine besondere Beachtung geschenkt. Darauf zielt also die nachdrückliche Wiederholung des wahrlich. Obwohl übrigens diese Äußerung Christi weit abgelegen und beinahe ganz ohne Zusammenhang mit den Worten des Nikodemus scheint, ist dieser Beginn doch äußerst passend. Besagen will er: so wie man in einen unbearbeiteten Acker vergeblich Samenkörner streut, wird auch die Lehre des Evangeliums fruchtlos verbreitet, wenn die Herzen der Hörer nicht vorher aufgelockert und zum richtigen Hören und Lernen bereit sind. Christus sah, daß das Herz des Nikodemus voller Unkraut und Dornen war, so daß es kaum Raum gab für die Belehrung des Heiligen Geistes. Diese Mahnung war also gleichsam das Pflügen des Ackers, um ihn zu reinigen, damit nichts die Wirkung der Lehre hindere. Deshalb wollen wir daran denken, daß Gottes Sohn dies einmal zu diesem einen sprach, um uns alle täglich mit demselben Worte anzutreiben. Wer von uns nämlich kann sagen, er sei von unreinen Leidenschaften frei, so daß er solche Reinigung nicht nötig habe? Wenn wir also redlich und mit Nutzen bei Christus in die Schule gehen wollen, müssen wir lernen, hier zu beginnen.
„Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde ...“ Christus spricht von der Wiedergeburt, als wenn er damit sagen wollte: solange du nicht hast, was für das Reich Gottes die Hauptsache ist, halte ich es nicht für wichtig, daß du mich als Lehrer anerkennst. Nur ein neuer Mensch kann den ersten Schritt in das Reich Gottes tun. Da aber dieser Satz so besonders bedeutungsvoll ist, müssen wir seine einzelnen Bestandteile näher untersuchen. Das Reich Gottes sehen bedeutet dasselbe wie „in dieses Reich eintreten"; so wird es bald aus dem Zusammenhang deutlich werden. Aber die unter dem Reich Gottes den Himmel verstehen, sind im Irrtum. Vielmehr bezeichnet es das geistliche Leben, das durch den Glauben schon in dieser Welt beginnt und von Tag zu Tag kräftiger wird gemäß dem Fortschreiten im Glauben. Also hat der Satz den Sinn: niemand kann sich in Wahrheit zur Gemeinde gesellen und zu den Kindern Gottes zählen, der nicht vorher neu geworden ist. So wird hier kurz gezeigt, wie der Anfang des Christseins überhaupt beschaffen ist. Zugleich werden wir durch dieses Wort belehrt, daß wir durch unsere leibliche Geburt als Fremdlinge außerhalb des Reiches Gottes stehen und für immer von ihm getrennt bleiben, solange die Wiedergeburt uns nicht ändert. Dieser Satz gilt allgemein und umfaßt alle Menschen ohne Ausnahme. Wenn Christus das nur zu einem einzigen oder wenigen gesagt hätte, sie könnten nicht in den Himmel kommen, ohne zuerst neu geboren zu werden, so könnten wir annehmen, er meine nur einen bestimmten Personenkreis; aber er spricht von allen ohne Ausnahme. Er braucht nämlich das unbestimmte Fürwort, das heißt aber soviel wie die allgemeingültige Aussage „wer auch immer" oder „alle, die nicht von neuem geboren sind". Weiter bezeichnet das Wort „von neuem geboren werden“ nicht eine nur teilweise Änderung, sondern die völlige Erneuerung des ganzen Wesens. Daraus folgt, daß wir durch und durch verkehrt sind. Denn wenn eine ganz umfassende Erneuerung notwendig ist, muß das bedeuten, daß wir völlig verderbt sind. Darüber wird bald noch ausführlicher zu sprechen sein. - Erasmus folgt der Deutung den Cyrillus und übersetzt das griechische Wort nicht mit „von neuem", sondern mit „von oben her". Nun gebe ich zwar zu, daß der griechische Ausdruck hier doppeldeutig ist; aber wir wissen ja, daß Christus mit Nikodemus hebräisch (aramäisch) gesprochen hat. Außerdem wäre für zweideutige Aussagen in diesem Gespräch kein Platz gewesen. Nikodemus entnahm also nichts anderes aus Christi Wort, als daß der Mensch noch einmal geboren werden müsse, bevor er zum Reiche Gottes gehören könne.
V. 4. „Nikodemus spricht zu ihm...“ Zwar steht die Wendung von neuem geboren werden, deren Christus sich hier bedient, nicht genauso im Gesetz und in den Propheten; aber allenthalben in der Schrift wird doch von der Erneuerung als einer der Grundlagen des Glaubens gesprochen. So wird deutlich, wie fruchtlos die Schriftgelehrten damals die Schrift gelesen haben. Sicher war es nicht nur der Fehler eines einzigen, nicht zu wissen, was die Gnade der Wiedergeburt für ihn bedeute. Da fast alle sich mit wertlosen Spitzfindigkeiten beschäftigten, vernachlässigte man gerade das, was für die Unterweisung in der Frömmigkeit die Hauptsache ist. Ein solches Beispiel bietet uns heute die Papstkirche in ihren Theologen. Denn da sie sich ihr ganzes Leben mit abseitigen Hirngespinsten abmühen, so wissen sie darüber, was eigentlich zum Gottesdienst, zum Glauben an unsere Erlösung und zur Übung in der Frömmigkeit gehört, nicht ein bißchen mehr als ein Schuster oder Ochsentreiber über die Bahnen der Sterne. Ja es geht sogar so weit, daß sie sich in fremdartigen Geheimlehren gefallen, die echte Schriftgelehrsamkeit aber eingestandenermaßen verachten, als sei sie ihrer Hochgelehrtheit unwürdig. Wir dürfen uns also nicht wundern, daß Nikodemus hier sozusagen über einen Halm stolpert. Die gerechte Strafe Gottes nämlich ist, daß diejenigen, die sich selbst wie die hervorragendsten und größten Gelehrten vorkommen, mit den einfachsten Tatsachen der Lehre nicht Bescheid wissen, da ihnen deren allgemeinverständliche Einfalt zu billig und gering ist.
V. 5. „Jesus antwortete...“ Diese Stelle ist verschieden ausgelegt worden. Einige glaubten, daß zwei Stufen der Wiedergeburt zu unterscheiden seien. Nach ihrer Ansicht ist mit „Wasser“ die Ablegung des alten Menschen gemeint, mit Geist aber das neue Leben. Andere meinen, es sei in diesen Worten ein unausgesprochener Gegensatz enthalten: dem Wasser und dem Geist als den reinen und klaren Elementen stelle Christus die irdische und grobe Natur der Menschen gegenüber! Also nehmen sie das Wort im übertragenen Sinne, als fordere Christus uns auf die schwere, drückende Last unserer fleischlichen Natur abzulegen und ähnlich zu werden dem Wasser und der Luft, damit wir uns nach oben strecken können oder doch wenigstens durch unsere Last nicht so sehr ins Irdische hinabgezogen werden. Aber beide Meinungen scheinen mir dem fernzuliegen, was Christus hier meint. Chrysostomus, dem der größere Teil der Erklärer folgt, bezieht das Wort „Wasser“ auf die Taufe. So wäre der Sinn, daß wir durch die Taufe in das Reich Gottes eingehen, weil durch sie der Geist Gottes uns neu schaffe. Dadurch ist es geschehen, daß die Taufe als unbedingt notwendige Vorrausetzung für die Hoffnung auf das ewige Leben angesehen werden muss. Und doch darf man, auch wenn man zugäbe, daß Christus hier von der Taufe spricht, die Worte nicht so pressen, daß er das Heil mit äußeren Zeichen dafür unlöslich verbindet. Vielmehr deshalb spricht er von „Wasser“ und „Geist“, weil Gott durch jenes sichtbare Zeichen das neue Leben bezeugt und besiegelt, das er allein durch seinen Geist bewirkt. Wahr ist freilich, daß wir durch die Verachtung der Taufe uns von unserem Heil ausschließen, und ich gebe zu, daß sie in diesem Sinne notwendig ist; aber falsch wäre es, den Glauben an unser Heil auf ein äußeres Zeichen zu gründen. Was also diese Stelle angeht, so lasse ich mich keinesfalls davon überzeugen, daß Christus hier von Taufe spricht; es wäre gar nicht der richtige Zeitpunkt. Wir müssen doch immer die Absicht Christi im Auge behalten, die wir oben erläutert haben: er wollte ja Nikodemus auffordern, ein neues Leben anzufangen, weil er nicht dazu fähig wäre, das Evangelium aufzunehmen, bis er ein anderer Mensch zu werden begönne. Seine einfache und schlichte Meinung ist: wir müssen von neuem geboren werden, um Gottes Kinder zu sein, und der Urheber dieser zweiten Geburt ist der Heilige Geist. Nikodemus nun stellt sich unter Wiedergeburt so etwas vor wie die Seelenwanderung der Pythagoräer. Um ihm diesen Irrtum zu nehmen, fügt Christus als Erklärung hinzu, es handle sich dabei nicht um eine zweite leibliche Geburt, um eine Wiederverkörperung, sondern um eine Erneuerung von Herz und Sinn durch die Gnade des Heiligen Geistes. So stellt bei ihm Geist und Wasser für dasselbe; das darf uns nicht hart und gezwungen anmuten. In der Schrift ist es eine ganz geläufige Ausdrucksweise, daß sie, wenn vom Geist die Rede ist, Wasser oder Feuer hinzufügt, um seine Gewalt zu verdeutlichen. Es ist unwichtig, daß er hier zuerst vom Wasser spricht. Ja, diese Redewendung ist glatter als die andere, weil erst der bildliche Ausdruck steht und dann der klare, lautere Begriff folgt. Es ist so, als wollte Christus sagen, niemand könne ein Kind Gottes sein, bevor er nicht durch Wasser neugeworden sei; das Wasscr aber sei der Geist, der uns rein macht, seine Krall in uns eingießt und im:, MI das neue Leben vom Himmel einhaucht, während wir von Natur ganz welk sind. Mit voller Absicht verwandelt Christus die in der Schrift gebräuchliche Wendung, um dem Nikodemus seine Unwissenheit zu beweisen. Nikodemus hätte doch endlich erkennen müssen, daß Christi Wort der allgemeinen Lehre der Propheten entnommen war (Hes. 36, 25). Also ist „Wasser“ nur ein Bild für die im Inneren wirkende, reinigende und lebenspendende Kraft des Heiligen Geistes. Hinzu kommt, daß bei einer Verbindung von zwei Begriffen gewöhnlich der zweite die Erläuterung des ersten bietet. Meine Auffassung wird außerdem auch durch den Zusammenhang gestützt; denn als Christus bald darauf den Grund dafür angibt, warum wir „von neuem geboren“ werden müssen, erwähnt er das Wasser gar nicht, sondern lehrt, nur der Heilige Geist schaffe das neue Leben; daraus folgt: daß man Wasser und Geist nicht trennen darf und sie ein und dasselbe sind.
V. 6. „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch ...“ Aus dem Gegensatz von Fleisch und Geist beweist er, uns allen sei das Reich Gottes verschlossen, wenn uns der Eingang nicht durch die Wiedergeburt eröffnet würde. Er nimmt als Voraussetzung an, daß wir nur dann in das Reich Gottes eingehen können, wenn wir geistlich sind. Vom Mutterleibe her haben wir nur eine fleischliche Natur. Daraus folgt, daß wir alle von Natur außen vor dem Reiche Gottes stehen und, des himmlischen Lebens beraubt, unter der Knechtschaft des Todes bleiben. Da Christus ferner hier den Schluß zieht, die Menschen müßten wiedergeboren werden, weil sie nur Heisch sind, so versteht er ohne Zweifel den ganzen Menschen unter „Fleisch“. Es bedeutet also hier nicht nur soviel wie Leib, sondern zugleich die Seele, und zwar jeden einzelnen ihrer Teile. Denn unsinnig ist es, wie die falschen päpstlichen Theologen „Fleisch“ einzuschränken auf die sinnliche Seite des Menschen. Auf diese Weise wäre die Behauptung Christi von der Notwendigkeit einer zweiten Geburt gegenstandslos. Wenn er aber das Fleisch dem Geist gegenüberstellt wie etwa das Verdorbene dem Gesunden, das Verkehrte dem Richtigen, das Besudelte dem Heiligen, das Schmutzige dem Reinen, so muß man selbstverständlich daraus schließen, die ganze menschliche Natur werde damit gerichtet. Christus verkündet: unser Sinn und Verstand sind sündig, weil sie fleischlich sind; alle Leidenschaften und Begierden des Herzens sind verkehrt und widergöttlich, weil gerade auch sie fleischlich sind. Aber hier wird der Einwand erhoben: da die Seele nicht menschlichen Ursprungs ist, wird ja der wichtigste Teil unseres Wesens nicht vom Fleische geboren. Daher glaubten viele, nicht nur dem Leibe nach stammten wir von unseren Eltern ab, sondern zugleich kämen auch unsere Seelen von ihnen wie die Rebe vom Weinstock. Es schien nämlich abwegig, daß die Erbsünde, die ihren eigentlichen Sitz in der Seele hat, von einem einzigen Menschen sich auf alle Nachkommen übertragen haben sollte, wenn nicht alle Seelen aus der Seele jenes einen geflossen seien. Gewiß scheinen auf den ersten Blick die Worte Christi darauf hinzudeuten: wir seien deshalb Fleisch, weil wir vom Heisch geboren werden. Meine Antwort auf alle diese Fragen lautet: Der Sinn der Worte Christi kann nur sein, daß wir alle von Geburt fleischlich sind; und insofern wir in diese Welt als sterbliche Menschen eintreten, kann unsere Natur nur Fleischliches erkennen. Er unterscheidet hier nämlich einfach zwischen Natur und übernatürlicher Gabe. Denn daß in der Person des einen Adam das ganze Menschengeschlecht verdorben worden ist, kommt nicht so sehr aus der leiblichen Abstammung von ihm als aus der von Gott getroffenen Bestimmung. Wie er in einem Menschen uns alle ausgezeichnet hatte, hat er uns mm seine Gaben genommen. So erbt jeder einzelne nicht so sehr Sündigkeil und Verderben von seinen Eltern, als daß wir gleichzeitig alle mit Adam ins Verderben geraten sind; sofort nach dem Abfall hat Gott dem Menschengeschlechte die haben wieder genommen, die er ihm gegeben hatte. Es erhebt sich noch eine andere Frage. Sicher ist es ja, daß auch in dieser entarteten, sündigen Natur doch etwas von den Gaben Gottes erhalten geblieben ist. Daraus folgt, daß wir nicht ganz und gar entartet sind. Die Lösung dieser Frage ist leicht: die Gaben, die Gott uns nach dem Fall Adams gelassen hat, sind, für sich betrachtet, gewiß löblich und gut. Aber da das Böse alles vergiftet, findet sich in uns nichts, was rein und frei wäre von jeder Verunreinigung. Wohl ist uns eine gewisse Erkenntnis Gottes angeboren; in unser Gewissen ist das Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse tief eingegraben; durch unsere Geistesgaben vermögen wir das gegenwärtige Leben zu schützen; schließlich stehen wir in jeder Hinsicht hoch über dem stumpfen Vieh. Das aber ist so, wie es von Gott stammt, gut und vortrefflich; in uns jedoch ist alles das völlig entstellt; der edle Wein wurde in ein schmutziges Gefäß gefüllt und hat dadurch seinen guten Geschmack gänzlich verloren, ja, er ist bitter und schädlich geworden. Die Gotteserkenntnis, die jetzt den Menschen bleibt, ist nichts weiter als eine schauderhafte Quelle des Götzendienstes und allen Aberglaubens; unser Urteilsvermögen bei der Auswahl und Unterscheidung der Dinge ist teils blind und verkehrt, teils verstümmelt und verworren; was wir mit Eifer betreiben, wird zu leerem Getriebe und zerrinnt in Nichtigkelten; unser Wille aber vollends stützt sich mit rasender Geschwindigkeit ganz und gar in sein Verderben; so ist: in unserm ganzen Wesen nichts zu finden, was völlig gerade und in Ordnung wäre. Daraus ist deutlich: wir müssen durch eine zweite Geburt für das Reich Gottes bereitet werden. Und das wollen Christi Worte sagen: da der Mensch vom Mutterleibe nur als fleischliches Wesen geboren wird, muß er durch den Heiligen Geist neu geboren werden, um damit beginnen zu können, geistlich zu leben. „Geist“ hat hier eine doppelte Bedeutung: er ist ja der Ursprung und das Ergebnis der Gnade zugleich; denn zuvor lehrt Christus, der Geist Gottes sei der einzige Urheber eines reinen und rechten Wesens; danach gibt er zu erkennen, wir seien geistliche Wesen, seit wir durch seine Kraft neugeworden sind.
7 Laß dich`s nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Rufen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren wird.
V. 7. „Laß dich's nicht wundern ...“ Die Erklärer deuten diese Stelle verschieden. Einige meinen, sie beziehe sich auf die geistige Schwerfälligkeit des Nikodemus und ähnlicher Leute, als wenn Christus sagen wollte, es sei kein Wunder, wenn sie jenes Geheimnis der himmlischen Wiedergeburt nicht fassen könnten, da sie ja doch nicht einmal innerhalb der natürlichen Ordnung von dem, was im Bereich der Sinneswahrnehmung liegt, Erkenntnis erlangen. Andere deuten die Stelle zwar sehr scharfsinnig, doch zu gewaltsam, folgendermaßen: so wie das Wirken des Windes frei ist, würden wir durch die geistliche Geburt wieder in den Stand der Freiheit gesetzt, so daß wir, los vorn Joch der Sünden, aus freien Stücken hin zu Gott eilten. Auch die Deutung des Augustinus trifft ganz und gar nicht, was Christus meint, als solle es hier heißen, der Geist Gottes werde ganz nach eigenem Gutdünken wirksam. Besser steht es um die Auslegung des Chrysostomus und Cyrill; auch sie sehen in dem Wehen des Geistes einen Vergleich mit dem Wind und deuten die Stelle so: obwohl man die Kraft des Geistes spürt, sind seine Ursache und Herkunft verborgen; ich nun weiche nicht von ihrer Ansicht ab, will aber versuchen, den Sinn der Stelle noch klarer und genauer darzulegen. Ich gehe auch davon aus, daß Christus seinen Vergleich der Ordnung der Natur entnimmt. Nikodemus hielt für unglaubhaft, was er von der Wiedergeburt und dem neuen Leben gehört hatte, weil die Art dieser Wiedergeburt sein Fassungsvermögen überstieg. Um ihm derartige Zweifel zu nehmen, erklärt Christus ihm, daß auch in der Körperwelt eine wunderbare Kraft vorhanden sei, deren Art verborgen ist. Alle Wesen schöpfen ja unsichtbar ihren Lebenshauch aus der Luft. Die Luftbewegung spüren wir ganz deutlich; woher sie aber kommt und wohin sie geht, wissen wir nicht. Wenn in diesem hinfälligen, flüchtigen Leben Gott so mächtig wirkt, daß wir seine Macht bewundern müssen, wie verkehrt wäre es da, im himmlischen und übernatürlichen Leben sein geheimnisvolles Wirken an unserer Auffassungsgabe messen zu wollen und nur das zu glauben, was sichtbar erscheint. So geht Paulus 1. Kor. 15, 36 und 37 heftig gegen diejenigen vor, welche die Lehre von der Auferstehung deshalb verwerfen, weil es unmöglich scheint, daß der Leib, der jetzt der Verwesung anheimfällt, zu seliger Unsterblichkeit auferstehe, wenn er in Staub und Nichts zerfallen sei. Er wirft ihnen Unachtsamkeit vor, weil sie im Weizenkorn nicht die entsprechende Kraft Gottes erkennen könnten. Denn auch das Samenkorn keimt nicht erst, wenn es verwest ist. Das ist jene wunderbare Weisheit, die David im Psalm 104, 24 laut rühmt. Allzu stumpfen Sinnes sind also dir Menschen, die sich nicht zu der Erkenntnis aufschwingen können, daß Gottes Hand im geistlichen Reiche Christi noch viel mächtiger wirkt, obwohl sie durch die allgemeine Ordnung der Natur daran gemahnt werden. Wenn Christus aber sagt, man solle sich nicht wundern, muß man es nicht so verstehen, als wolle er Gottes herrliche und bewundernswerte Werke in unseren Augen herabsetzen; er will nur nicht, daß unsere Verwunderung uns am Glauben hindere. Viele nämlich weisen als Hirngespinst all das zurück, was ihnen allzu hoch und schwer erscheint. Ich fasse zusammen: wir sollen nicht daran zweifeln, daß wir durch den Geist Gottes neue Menschen werden, wenn auch die Art reines Wirkens im verborgenen bleibt.
V. 8. „Der Wind bläst, wo er will. . .“ Der Wind weht nicht deshalb, wohin er will, weil in seinem Wehen ein eigener Wille läge, sondern weil seine Bewegung freischweifend und verschiedenartig ist; die Luft nämlich strömt bald hierhin, bald dorthin. Gerade diese Eigentümlichkeit macht aber die Ähnlichkeit aus; denn wenn er wie das Wasser in gleichmäßigem Strom dahinflutete, wäre an ihm weniger Wunderbares.
„So ist ein jeglicher. . .“ Christus erklärt, bei der Neuwerdung des Menschen könne man die Bewegung und die Tätigkeit des Geistes Gottes genauso wahrnehmen wie die des Windes hier in unserem irdischen Leben; aber seine Weise sei verborgen. Es sei undankbar und böswillig von uns, die unbegreifliche Macht Gottes im himmlischen Leben nicht zu verehren, von der er uns ein so deutliches Abbild in dieser Welt vor Augen führt, und wenn wir ihm bei der Wiederherstellung des Heils der Seele weniger Kraft zutrauen, als er uns täglich bei der Bewahrung unseres leiblichen Lebens beweist. Diese Gedankenverbindung wird ein wenig klarer, wenn man den Satz so übersetzt: von dieser Art sind die Macht und die Wirkung des Heiligen Geistes in einem wiedergeborenen Menschen!
Aus: Otto Weber, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Vierzehnter Band: Das Johannes-Evangelium, Neukirchener Verlag, 1964, S. 59ff.
Achim Detmers