Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.
Liebe Schwestern und Brüder,
“ich sehe was, was du nicht siehst”: Das war - und ist vielleicht noch heute - ein beliebtes Spiel, um sich mit Kindern gemeinsam die Zeit zu vertreiben auf Reisen, im Wartezimmer der Arztpraxis oder wo auch immer. Man braucht dazu nichts als ein wenig Phantasie und Beobachtungsgabe. Ich sehe etwas, du siehst etwas. Wir können uns meist darüber verständigen, was wir da gesehen haben - auch wenn niemand überprüfen kann, ob die subjektive Wahrnehmung des andern mit der eigenen identisch ist.
Fake-News gehen mit gephotoshopten Bildern einher - Du siehst etwas, was ich dir zeige; aber weißt du, ob es überhaupt existiert? Was sehen meine Augen tatsächlich? - Kann man das objektiv messen und miteinander vergleichen? Weiß ich, dass der andere dasselbe empfindet, wenn er das gleiche erblickt? “Okuli” ist der Name des heutigen Sonntags. Das ist Latein und bedeutet “Augen”. Der Wochenspruch aus dem 25. Psalm lautet: Meine Augen sehen stets auf den Herrn.
Meine Augen... Gott sei Dank sind meine Augen gesund!
Ich freue mich, dass ich die Schönheit dieser Welt mit meinen Augen betrachten kann.
Meine Augen sehen.
Wenn ich etwas genau betrachten oder einen Text lesen will - so wie jetzt -, dann kann ich eine Sehhilfe gut gebrauchen und damit den Mangel ausgleichen, der im Laufe meines Lebens eingetreten ist: Meine Augen sehen zwar, aber nicht mehr so gut wie früher, und da ich mit einer Optikerin verheiratet bin, bekam ich schon mit Anfang Vierzig den Rat, mir eine Lesebrille zu besorgen, denn die Akkumulationsfähigkeit der Linse lässt immer weiter nach, aber meine Arme werden nicht länger...
Meine Augen sehen vielerlei jeden Tag: Jetzt im Frühling sehe ich vor und hinter unserem Haus blühende Blumen und Büsche, eine willkommene Abwechslung nach Monaten des grauen Einerlei! Viele verschiedene Menschen sehe ich jeden Tag - auf dem Weg ins Gemeindehaus, in Sitzungen und Gesprächen, beim Konfirmandenunterricht, im Gottesdienst. Etliche sehe ich häufig, andere gelegentlich, wieder andere sehr selten und mache nur ein einziges Mal.
Meine Augen sehen natürlich nicht nur das, was sie gern sehen wollen: Manchmal werde ich Augenzeuge von Streitigkeiten, vielleicht muss ich sogar einen Unfall mit ansehen. Im Fern-Sehen, wo mir die Dinge vom Leib gehalten werden, die ich aus der Nähe nicht betrachten möchte, bekomme ich noch ganz anderes zu Gesicht: Krieg, Hunger, Krankheit, menschliche Not. Meine Augen sehen hin, wollen Anteil nehmen - aber der Mann im Fernsehen bleibt ganz sachlich bei seiner Berichterstattung, selbst wenn er brennende Häuser zeigt und Kinder mit verstümmelten Körpern.
Meine Augen erblicken verängstigte, hungernde, blutende Menschen - aber schon schwenkt die Kamera weiter... Meine Augen erfassen, was ich für die Realität unseres Lebens halte; doch vieles bleibt ausgeblendet oder zumindest so wohldosiert, dass man es gerade eben noch gut ertragen kann.
Meine Augen sehen stets auf den Herrn, sagt der Psalmist.
Übertreibt er - oder bin ich ein so halbherzig Gläubiger? Jedenfalls würde ich so vollmundig nicht formulieren: Meine Augen sehen stets auf den Herrn. - Aber sehen sie denn wenigstens manchmal auf den Herrn?
In unserem Wohnzimmer hängt kein Kruzifix, auch kein Kreuz. Und selbst wenn da eines hinge - ich sähe doch nur ein Stück Holz oder eine Arbeit aus Metall, vielleicht sogar kunsthandwerklich beeindruckend gemacht, ästhetisch ansprechend. Wohin soll ich überhaupt blicken, damit meine Augen den Herrn sehen?
“Wer den lebendigen Gott von Angesicht zu Angesicht sehen will, darf ihn nicht am leeren Firmament seiner Gedankenwelt suchen, sondern in der Menschenliebe.” So hat Fjodor Dostojewski beschrieben, wohin man zu blicken hat, wenn man möchte, daß die Augen auf den Herrn sehen.
So lehrt es auch die jüdische Tradition. Überliefert ist das Gespräch eines Rabbi mit seinen Jüngern. Der Meister fragt: “Wann endet die Nacht und der Tag beginnt?” - Der erste Schüler schlägt vor: “Wenn man in der Dämmerung einen Hund von einem Kalb unterscheiden kann.” Der Rabbi schüttelt den Kopf. - Der zweite Schüler bietet an: “Wenn man im Morgengrauen einen Menschen von einem Baum unterscheiden kann.” Auch dies befriedigt den Meister nicht. Darauf wollen die Jünger endlich die Antwort erfahren, und der Rabbi bekundet: “Wenn du ins Antlitz deines Nächsten blickst und erkennst darin deinen Bruder oder deine Schwester, dann endet die Nacht, dann beginnt der Tag.”
Meine Augen sehen stets auf den Herrn; denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen, betet der Psalmist, und zugleich bittet er: Zeige mir, Herr, deine Wege, lehre mich deine Pfade. Auf den Herrn zu sehen, bedeutet also zugleich, auf das zu achten, was Gott getan hat und tut, damit wir jenen Weg entdecken, den es zu gehen gilt in der Nachfolge Jesu Christi.
So fundamental es auch aus unserem Blickwinkel ist, dass uns das Augenlicht geschenkt ist - es geht nicht eigentlich um ein visuelles Vermögen. Die zahlreichen Berichte von Blindenheilungen im Neuen Testament laufen allesamt darauf hinaus, dass Menschen - durchaus auch und gerade den Zeugen dieser Wundertaten - die Augen aufgehen für das, was Gott tut und will.
Und bei der Aufzählung jener Heilstaten, die das Kommen des Messias kennzeichnen, werden in einer sich steigernden Reihe die Blinden zuerst genannt, und nicht einmal die Auferweckung der Toten bildet den Schluss- und Höhepunkt, sondern die Verkündigung der Frohen Botschaft von der Befreiung aus der Knechtschaft des Todes und die Annahme der Guten Nachricht von der Liebe Gottes.
Meine Augen sehen stets auf den Herrn - nicht etwa nur in der Kirche -, denn er will dort gefunden werden, wo ich meine geringsten Schwestern und Brüder treffe. Die Frage ist, ob ich ihn dann erkenne, ob ich überhaupt in die richtige Richtung schaue. Das Kreuz ist ja keine historische Reminiszenz, sondern notvolle Gegenwart: Da, wo Menschen leiden, da leidet Gott. Da, wo Menschen geopfert werden, da sollte mir der gekreuzigte Herr vor Augen sein, der gestorben ist, damit wir leben, nicht, damit wir Morden rechtfertigen und Leiden relativieren.
Meine Augen sehen.
Meine Augen sehen - sehen, was um mich herum vor sich geht.
Und dennoch sind sie allzu oft geblendet von Irrlichtern, die mir die Orientierung rauben.
Ich sehe Bilder vom Krieg - schreckliche Bilder. Und dann wieder höre ich Sätze wie “Wir werden siegen” - so übermittelt von dem Ehemann einer Bekanten meiner Schwiegermutter, die auf dem Weg aus Kiyiv nach Berlin ist, während ihr Mann die Uniform angezogen hat, um sein Land zu verteidigen.
Meine Augen sehen eine große Menschenmenge, die Solidarität mit der Ukraine bekundet; und zugleich höre ich von der Empörung von Fuhrunternehmern und Pendlern über die gestiegenen Energiepreise. Ich sehe - und kann es kaum glauben -, wie eine mutige Frau im russischen Staatsfernsehen ein Plakat zeigt, das ein Ende des Bruderkrieges fordert und den Zuschauer:innen kundtut, daß das, was sie für Nachrichten halten, in Wahrheit Propaganda ist.
Ich reibe mir die Augen: Ich sehe, ja; aber ich erkenne nicht.
Was ist bloß mit meinen Augen los?
“Siehst du den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen, und ist doch rund und schön. So sind gar manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.”
Manche Leute wollen nur das sehen, was unmittelbar vor Augen liegt, und ignorieren beharrlich, was sich unseren Blicken entzieht, auch wenn sie um dessen Existenz wissen. Andere haben das Geheimnis gelernt, das der Fuchs dem Kleinen Prinzen anvertraut hat: “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.” In diesem Sinne verstehe ich unseren Psalmvers: Meine Augen sehen stets auf den Herrn ließe sich in unseren Worten auch so sagen: Mein Herz ist ganz auf Gott ausgerichtet.
Liebe Schwestern und Brüder, ich fasse die Botschaft noch einmal zusammen:
Seht auf Christus, und zwar nicht, als wäre das Kreuz ein Totempfahl und schon sein purer Anblick rettend!
Schaut vielmehr auf den, der erhöht wurde und zur Rechten Gottes sitzt, und achtet dabei auf das, was er geliebt und gelitten hat!
Ich bekenne: Meine Augen sehen nicht 24 Stunden am Tag auf den Herrn. Aber meine Augen, mein Herz, mein Inneres ist ganz auf Gott ausgerichtet:
Ihm vertraue ich.
Ihm gehorche ich.
Ihm folge ich nach, so gut oder schlecht ich es eben vermag.
Ich glaube, Herr - hilf meinem Unglauben!
Amen.