Jona, der heruntergekommene Prophet

Predigt zum Jona 1,1–3

Jan Brueghel der Ältere: Jona entsteigt dem Walfisch (um 1597, Ausschnitt) © Wikicommons

Von Marco Hofheinz

Liebe Gemeinde,

Sie kennen wahrscheinlich die Geschichte vom Propheten Jona, diese „Perle der israelitisch-jüdischen Literatur“1 (L. Schmidt). Sie erzählt von dem Propheten, der beauftragt wird, in Ninive, im Feindesland, zur Umkehr zu Gott zu rufen, der sich aber seinem Auftrag verweigert und vor Gott fliehen möchte. Auf einer Schiffsreise wird Jona von einem Fisch verschluckt und ans Land „gekotzt“ (Jona 2,11), wie es derb im Hebräischen heißt. Schließlich versieht Jona dann doch noch seinen Auftrag und bewahrt Ninive vor dem Untergang.2

Eine einzigartige Geschichte, die Menschen bis heute in ihren Bann zieht und auch wir wollen uns heute in ihren Bann ziehen lassen, indem wir uns den ersten drei Versen dieses Buches zuwenden. Ich lese Jona 1,1–3 nach der Übersetzung von Jörg Jeremias: „Einst erging das Wort Jahwes an Jona, den Sohn Amittais: ‚Auf, mache dich auf den Weg nach Ninive, der großen Stadt und rufe gegen sie; denn ihre Bosheit ist vor mein Angesicht heraufgedrungen!‘ Da machte sich Jona auf – um nach Tarschisch zu fliehen, fort von Jahwes Angesicht. Er stieg herab nach Jafo, fand ein Schiff, das nach Tarschisch fuhr, zahlte den Fahrpreis und stieg in es herab, um mit ihnen nach Tarschisch zu fahren, fort von Jahwes Angesicht.“3

Liebe Gemeinde,

was für ein ungewöhnlicher Beginn eines prophetischen Buches. Hals über Kopf stürzt sich der Erzähler in seine Erzählung. Keine Zeitangabe, keine genauere Einführung der Hauptfigur Jona, keine näheren Erläuterungen zum Inhalt der gegen Ninive gerichteten Verkündigung4, keine Angaben zu dem, was Ninive denn genau Böses getan hat. Allein der Verweis auf Größe und Bosheit der Stadt sowie auf Gottes Wort eröffnet die Erzählung. Das muss genügen!

Doch nun kommt es zu einem unerhörten Vorgang, der ohne jede Parallele im Alten Testament ist.5 Auf Befehl folgt hier nicht etwa der Gehorsam, sondern die Verweigerung. Das ist nicht im Entferntesten mit der anfänglichen Einrede großer biblischer Gestalten bei ihrer Berufung zu vergleichen: Mose etwa verweist darauf, dass er nicht reden kann (Ex 4,10), Gideon auf seine niedere Herkunft (Ri 6,15) oder Jeremia darauf, dass er zu jung ist (Jer 1,16).6 Jona hingegen verweigert sich. Er flieht vor Gott. Welch ein Unsinn, werden wir vielleicht denken. Vor Gott kann man doch nicht fliehen. Gott ist doch überall. Die Welt ist seine Welt und auch der fernste Ort, auch das dunkelste Dunkel ist ihm nicht verborgen. Selbst in der größten Gottesferne ist Gott ganz nah. Wegrennen bringt nichts.

Und doch – können wir Jona nicht verstehen? Hätten wir hier anders gehandelt? Denken wir nur an Ninive: „Ninive war im 7. Jahrhundert vor Christus das riesige Machtzentrum des neuassyrischen Reiches, dem der ganze alte Orient unterworfen war. Durch Brutalität übertraf es in seiner Kriegsführung, in seiner Umsiedlungspolitik und in seinen Foltermethoden alle seine Vorgänger und Nachfolger in der Antike. Israel selbst hat unter keiner anderen Weltmacht in alter Zeit so zu leiden gehabt.“7 Ninive steht – kurz gesagt – für die tyrannische „superpower“8 der damaligen Zeit. Und ausgerechnet in diese Stadt soll Jona gehen, um ihr – wie er später erfahren wird (Jona 3,4) – den Untergang anzudrohen. Verständlich, dass er davonlaufen möchte.

Auch wir werden solche „Fluchtreflexe“ des Davonrennens kennen. Auch wir haben unsere Ninives. Ninive ist – das sagt uns unser Text – durch zweierlei charakterisiert: Größe und Bosheit (Jona 1,2).9 Wie gerne, wie allzu gerne fliehen auch wir vor Dingen, die uns als übergroß erscheinen. Da ist etwa die Klimakrise – viel zu groß, um sie konsequent anzugehen, sagen viele. Die kann man nur global in den Griff bekommen und weil ohnehin nicht alle mitmachen werden beim konsequenten, globalen Klimaschutz, lassen wir es doch lieber gleich ganz sein.

Oder denken wir an die Bosheit: „Warum sollen wir uns etwa für Frieden einsetzen? Die Welt ist böse, voll von Krieg und Kriegsgeschrei, siehe Israel, siehe Gazastreifen in diesen Tagen, siehe Ukrainekrieg – alles erdrückende Belege dafür, dass sich der „ewige Frieden“, von dem Kant spricht,10 niemals auf Erden einstellen wird.

Also lassen wir es am besten gleich sein, uns für den Frieden auf Erden einzusetzen. Die Bosheit der Welt ist zu erdrückend, als dass es sich lohnte, sich dafür aufzureiben.“ Und wir müssen gar nicht erst in die große Weltpolitik hineingehen, sondern kennen im Blick auf unseren persönlichen Nahbereich tausend Kleinigkeit und tausend Begebenheit, in denen wir vor der Größe und Bosheit Ninives kapitulieren und es bisweilen gar nicht merken, dass wir Jona sind, der vor Gott und seinem Auftrag davonläuft.

Wohin möchte Jona fliehen? Wohin davonrennen? Antwort: nach „Tarsis“ – so heißt es gleich drei Mal. Diese „erzähllogisch überschießende Dreifachnennung von Tarsis“11 hat es in sich. „Tarsis“ bildet in unserem Text einen unübersehbaren Signalbegriff. Geographisch ist Tarsis „wahrscheinlich an der Südwestküste Spaniens […] zu suchen.

Der Name bedeutet vermutlich ‚Schmelzhütte‘; jedenfalls bricht man im Allgemeinen dorthin auf, um ‚Silber, Eisen, Zinn und Blei‘ (Hes 27,12) zu gewinnen. Die berühmten phönizischen Hochseeschiffe heißen nach diesem Zielhafen ‚Tarsisschiffe‘. Tarsis ist also als Fluchtziel Jonas doppelt verständlich: Zum ersten ist es seinem befohlenen Ziel Ninive am weitesten entgegengesetzt. Tarsis gehört (nach Jes 66,19) zu jenen Gestaden, an denen man nie die Kunde von Jonas Gott vernommen hat. In Tarsis wird Jona nichts und niemand mehr an seinen Auftrag und seinen Auftraggeber erinnern. Zum zweiten: In Tarsis kann man reich werden. ‚Gehämmertes Silber aus Tarsis‘ war (nach Jer 10,9) selbst in Israel eine beliebte Ware. Ein Leben, wenn nicht mit Erfolg, so doch in Sicherheit, ist in Tarsis sehr wahrscheinlich.“12

Jona zieht diese Welt der Sicherheit und des Handels, des Kapitals und des Wohlstandes, der Ökonomie und Prosperität, also Tarsis, Ninive und dem höchst gefahrvollen Ausgang des Auftrages Gottes vor. Wiederum allzu verständlich – werden wir sagen. Denn auch wir flüchten gerne nach Tarsis. Tarsis, ja Tarsis steht für all diejenigen Dinge, die uns wichtiger sind als Gott, die uns davon abhalten, seinem Gebot Folge zu leisten. Tarsis steht letztlich für die Götter, die das erste Gebot kennt: „Ich bin Jahwe, dein Gott […]. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ (Ex 20,2f.). Wer nach Tarsis flieht, der kommt – so Luther in seiner unnachahmlich derben Sprache – „auf ein nackend Weib, auf einen Goldberg oder gen Hispaniam“.13

Es geht bei alle dem, um nichts anders als das erste Gebot, um Gott und die Götzen. Vor dieser Frage nach dem Gehorsam steht Jona und vor dieser Frage stehen auch wir, liebe Gemeinde, immer wieder im Leben. Das Jonabuch macht uns das deutlich. In diesem so kurzen und doch so gehaltvollen biblischen Büchlein, dieser kunstvollen Novelle14, „spricht uns ein Erzähler an, der uns Jona als einen Spiegel vorhält.

Man hat sich das Verständnis dieses wundervollen Buches oft dadurch unnötig erschwert, dass man sich seine Erzählweise nicht klarmachte. Es will keinen Geschichtsbericht bieten, bei dem man fragen sollte: was ist in der Vergangenheit geschehen? Vielmehr wird jeder Leser wie in einem Gleichnis gefragt: Erkennst du dich in diesem Spiegel wieder?“15 Ja, in diesem Text hält Gott uns Jona als einen Spiegel vor, in dem wir uns erkennen können.

Dazu nun abschließend noch eine letzte Beobachtung am Text: Wir hatten gesagt, dass uns Jonas Flucht nach Tarsis und seine Weigerung nach Ninive zu gehen, menschlich nur allzu verständlich erscheinen. Und doch ist die Erzählung in ihrer Beurteilung dessen, was Jona tut, eindeutig. Durch die Art, wie diese Novelle die Flucht Jonas erzählt, wird dies deutlich. In Vers 3 heißt es: Jona stieg nach Jafo herab und in das Schiff herab. Zweimal steigt er herab.16

Das hebräische Verb jarad (ירד), das hier gebraucht wird, fungiert als Leitwort17: jarad meint heruntersteigen, herunterkommen. Jona ist also im wörtlichen Sinne ein heruntergekommener Prophet. Der Weg in die Sicherheit und in den Wohlstand, der Weg in die Komfortzone ist in Wahrheit Jonas Abstieg als Bote Gottes. Diesem Weg des Abstiegs liegt die unsinnige Flucht vor Gott zugrunde, dem doch niemand entgehen kann.

Und das Schöne und so Trostvolle dieses großartigen Buches besteht nun darin, dass uns dort nicht nur Jonas Abstieg berichtet wird. Vielmehr erzählt es davon, wie Gott überraschend diese unsinnige Flucht Jonas dazu nutzt, sein Heil selbst den „finsteren Heiden“, selbst dem notorisch bösen Ninive zukommen zu lassen. In Jonas Plan und in seine Vorstellung passt dies gar nicht hinein.18 Sein Protest kennt viele Färbungen. Er changiert zwischen Wegrennen und Schmollen.

Doch gerade darin ist das Jonabuch so unendlich tröstlich, dass es uns deutlich macht: Auch des Menschen Eigensinn, auch Jonas Ungehorsam gefährdet die Güte Gottes nicht.19 Klaus-Peter Hertzsch hat dies wunderbar heiter-ernst in seinen „Biblischen Balladen“ auf den Punkt gebracht: „Gott aber, der den Weg schon kannte, / sah lächelnd zu wie Jona rannte.“20

Auch Jona muss erst lernen, sich der Güte Gottes anzuvertrauen. Von diesem Lernweg erzählt das Jonabuch in seinen weiteren Kapiteln, die auf unsere drei Verse am Beginn folgen. Wir dürfen gespannt sein – auch darauf, wo und wie Gott unsere Pläne und Vorstellungen heilsam durchkreuzt.

Amen

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1 Ludwig Schmidt, zit. nach Erich Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, Studienbücher 1,1, 7. Aufl., Stuttgart 2008, 548.

2 Vgl. Michaela Bauks, Theologie des Alten Testaments. Religionsgeschichtliche und bibelhermeneutische Perspektiven, UTB 4973, Göttingen 2019, 281.

3 Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, ATD 24,3, Göttingen 2007, 81.

4 Vgl. Walter Bührer, Untersuchungen zur literarischen Gestaltung des Jona-Buches, in: BN 166 (2015), (29–50) 41.

5 So J. Jeremias, ATD 24,3, 84.

6 Vgl. ebd.

7 Hans Walter Wolff, Studien zum Jonabuch. Mit den Bibelarbeiten des Deutschen Evangelischen Kirchentags Köln 1965, Biblische Studien 47, Neukirchen-Vluyn 1965, 91f. In der von Jörg Jeremias herausgegebenen Neuauflage der Wolffschen „Studien zum Jona-Buch“ fehlen die für die Predigtarbeit so wichtigen Kirchentags-Bibelarbeiten leider. Vgl. Hans Walter Wolff, Studien zum Jonabuch. Mit einem Anhang von Jörg Jeremias: Das Jonabuch in der Forschung seit Hans Walter Wolff, 3. Erweiterte Aufl., Neukirchen-Vluyn 2003.

8 So Walter Brueggemann, Theology of the Old Testament. Testimony, Dispute, Advocacy, Minneapolis 1997, 519. Jörg Jeremias (Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, 443) spricht von Ninive als „Symbol der die Völker tyrannisierenden gewalttätigen Weltmacht“. Zu Ninive vgl. auch P. Weimar, Jona, 84–88.

9 So Wolff, Studien zum Jonabuch, 91.

10 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), in: ders., Werk in zehn Bänden, Bd. 9 (Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Erster Teil), hg. von Wilhelm Weischedel, 5. Aufl., Darmstadt 1983, 125–172.

11 Jan-Dirk Döhling, Das Wüten der Welt. Zur literarischen Funktion der Schöpfungsdynamik in Jona 1 und 2, in: BN 157 (2013), (3–32) 12. Vgl. H.W. Wolff, Studien zum Jonabuch, 93.

12 H.W. Wolff, Studien zum Jonabuch, 93. Ausführlich zu Tarsis vgl. Peter Weimar, Jona, HThK.AT, Freiburg i.Br. 2017, 97–99.

13 WA 28, 76,8f. (Predigt zu Joh 17,1 vom 8.8.1528). Zit. nach Hermann Dembowski, Martin Luther, in: ders., Wahrer Gott und wahrer Friede. Aufsätze und Vorträge zwischen Ost und West, hg. von Heino Falcke / Henning Schröer, Leipzig 1995, (378–393) 381.

14 Hans Walter Wolff (Dodekapropheton 3: Obadja und Jona, BK XIV/3, Neukirchen-Vluyn 1977, 75) spricht von einer „satirisch-didaktischen Novelle“.

15 Wolff, Studien zum Jonabuch, 91. Ähnlich auch Gerhard von Rad (Theologie des Alten Testaments. Bd.2: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, KT 3, 9. Aufl., München 1987, 300), der von einer „stark vom Didaktischen her bestimmte[n] Erzählung“ spricht, „die man eben anders lesen muß als einen geschichtlichen Bericht“.

16 In V. 5 steigt Jona dann noch in den Laderaum des Schiffes herab. Vgl. zum „Abstiegs-Motiv“ J. Jeremias, ATD 24,3, 84; H.W. Wolff, Dodekapropheton 3, 80; P. Weimar, Jona, 94f.

17 So J.-D. Döhling, Das Wüten, 11.

18 Vgl. Walter Brueggemann, The Word Militant. Preaching a Decentering Word, Minneapolis 2010, 121: “Jonah, the prophet, […] knows well that there is much of God beyond a tight system of sanctions. That ‘beyond’ of God greatly upsets Jonah.”

19 Vgl. Mathias Wirth, Eigensinn gefährdet die Güte Gottes nicht. Der Prophet Jona und eine alttestamentliche Kritik des Gehorsams, in: KuD 60 (2014), 169–189.

20 Klaus-Peter Hertzsch, Der ganze Fisch war voll Gesang. Biblische Balladen zum Vorlesen, 9. Aufl., Stuttgart 1981, 53.


Marco Hofheinz