Über Schleiermacher. Rede an die Gebildeten unter seinen Verächtern

Predigt zum Buß- und Bettag 2018 (Offenbarung 3,14-22)


Friedrich Schleiermacher © Wikipedia

Von Pfr. Dr. Jürgen Kaiser, Berlin

Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: So spricht, der das Amen ist, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: Ich kenne deine Werke und weiß, dass du weder kalt noch warm bist. Wärst du doch kalt oder warm! Nun aber, da du lau bist, weder warm noch kalt, will ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sagst: Ich bin reich, ich bin wohlhabend und habe nichts nötig, und merkst nicht, dass gerade du elend bist, erbärmlich, arm, blind und nackt.

Darum rate ich dir: Kauf Gold von mir, das im Feuer geläutert ist, dass du reich wirst, und weiße Gewänder, dass du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht zum Vorschein kommt, und Salbe, dass du sie auf deine Augen streichst und wieder sehen kannst.
Die ich liebe, weise ich zurecht und erziehe sie. Empöre dich, kehre um!

Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer immer auf meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich einkehren und das Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir. Wer den Sieg erringt, soll mit mir auf meinem Thron sitzen, so wie ich, nachdem ich den Sieg errungen habe, mit meinem Vater auf seinem Thron sitze. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.

Meine andächtigen Freunde, die ihr Ohren habt und Geist, Esprit und Gemüt, hört mir zu! Ich will von einem berichten, an dessen Tür es klopfte. Er machte auf und es kehrte bei ihm ein: der Geist. Der Gast erfüllte sein Gemüt so sehr, dass dieser Mensch, von dem hier die Rede ist, sich mitteilen musste, dass er reden musste von dem, was ihn da erfüllte. Ihm wurde warm und wärmer, manche, die ihn so sahen, meinten, er habe sich mit dem romantischen Fieber infiziert. Er selbst aber diagnostizierte seinen erregten Zustand als Religion und hielt das nicht für eine Krankheit sondern für ein Heilmittel.

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Friedrich Schleiermacher wurde heute vor 250 Jahren geboren oder – um im hohen Ton seiner Begeisterung zu bleiben – erblickte das Licht des Universums und wurde Teil der Menschheit. Mit in die Wiege gelegt war ihm Religion, wie jedem einzelnen Teil der Menschheit, aber ihn rührte das Universum so, dass die Religion ihm nicht verschüttet wurde unter den Trümmern der Aufklärung und sie ihm nicht fade wurde durch die Lauheit seiner Zeitgenossen.

Meine andächtigen Freunde, es wird euch nicht verborgen bleiben, dieser Geburtstag hat auch in meinem Gemüt seine Spuren gefurcht, ich habe noch einmal das zerfledderte Reclam-Heftchen mit den Reden aus dem Regal genommen, auch ein paar seiner vielen Predigten habe ich gelesen, die alle sorgfältig nachgeschrieben wurden. Nur bei der Anrede hat sich der Nachschreiber eine Abkürzung erlaubt: „M.a.Fr.“, was ich mit „Meine andächtigen Freunde“ entschlüsseln würde und nicht mit „Meine anbetenden Frauen“; das wäre nach Lage der Dinge immerhin denkbar, ist doch überliefert, dass davon immer ein Schwarm unter seiner Kanzel lauschte.

Ihr merkt, meine andächtigen Freunde, die Begeisterung hat sich mir übertragen, ich habe mich erwärmt, bin in Schwingungen geraten, die Sprache hat sich eingestimmt auf dem höheren Kammerton religiöser Musikalität – jedenfalls für diese Bußpredigt zum Geburtstag. Die einen mag es traurig stimmen, die anderen hoffnungsfroh, wenn ich ankündige: Das wird sich wieder legen. Nach den Wanderungen durchs Universum zum 250. Geburtstag des Universalgelehrten, werden wir uns im nächsten Jahr bodenständigen Wanderungen durch die Mark Brandenburg widmen zum 200. Geburtstag des Märkischen Wanderers. Der hohe Ton des Enthusiasmus wird sich legen zur leicht spöttischen Note Fontanes. Ich fürchte mich schon vor dem Jahr, das kein Jubiläum für uns bereithält. Was werden wir dann sagen? Wessen Lieder werden wir dann singen?

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Ach, käme doch in unsere Zeit noch einmal einer wie Schleiermacher! Einer, der so begeistert ist wie er von der Religion. Einer, der mit neuen Worten, mit einer anderen Sprache von der Sache redet, wie Schleiermacher es tat. Man wird heute nicht mehr Universum sagen, wenn man Gott meint. Aber wie könnte man ihn heute nennen? Man wird heute nicht mehr vom Gefühl und der Anschauung reden, wenn man vom Glauben sprechen will. Aber wie würde man heute davon reden? Man würde heute nicht mehr vom Aufgehen des Einzelnen in der Menschheit schwärmen, wenn man von der Liebe singt. Aber mit welchen Engelzungen würde man heute von ihr singen?

Es bleibt doch vieles tönendes Erz und klingende Schelle, was wir heute von den Kanzeln hören. Wenn ich mich täusche, meine theuren Freunde, wenn ihr in unseren Tagen je etwas anderes gehört habt, wenn euch also etwas heiß gemacht hat in der Kirche, dann teilt es uns mit und wir werden uns beeilen zu erforschen, was es sei, das eurer Gemüt in religiöse Wallung versetzt hat, dass auch wir die ganze Virtuosität dessen erlangen, der euch so begeistert hat.

Aber so lange ihr mir davon nichts mitteilt, muss ich glauben, meine lieben Freunde, dass ihr darüber nicht anders denkt als ich: Unsere Zeit ist ebenso lau wie die Zeit vor gut 200 Jahren, in die der Redner seine heißen Worte sprach. Und war es vor 2000 Jahren im göttererfüllten Athen nicht schon so lau wie im erdbebenerschütterten Laodizäa? Lauheit allerorten, Lauheit damals, gestern und heute. Ach, wärest du doch kalt oder warm! Aber nein, du bist lau. Ein Sendschreiben an die Gemeinde in Laodizäa beklagt nichts anderes als eine Rede an die Gebildeten unter den Verächtern der Religion und eine Berliner Bußtagspredigt im Jahre 2018.

Dass diese Stadt, sein und unser Berlin, jemals heiß für die Religion gewesen wäre, wird niemand behaupten. Viele sagen, es sei heute ganz kalt gegen alles, was mit Glauben und Kirche und Gott in Verbindung gebracht werden kann. Aber das stimmt doch auch nicht. Hartnäckige Verächter gibt es in dieser Stadt nur wenige. Gäbe es doch nur mehr davon – ich wünschte es, meine andächtigen Freunde, sie würde uns locken und reizen, unsere Gemüter auf die Betriebstemperatur erhitzen, in der der Geist sich entzündet und endlich zu brennen beginnt für all das Gute und Wunderbare, das wir von Gott täglich empfangen.

Aber es gibt sie kaum, die kalten, harten Atheisten, Verächter und Kritiker. Dafür Millionen von Lauen. Freundliche, gebildete, wohlmeinende, zivilisierte, irgendwie für alles aufgeschlossene Menschen, die uns machen lassen, die uns auch loben. Für die Werte, die ja so wichtig sind, gerade heute, und die die Kirche hochhält, und die wir unsere Kindern bei der Taufe mit drei Tröpfen Wasser auf einen Schlag des Segens wundersamerweise einträufeln. Warum bringen immer noch einige ihre Kinder zu Taufe? Nicht, weil sie heiß auf das Evangelium sind oder für die Religion glühen, sondern wegen der Werte. Als werde einer ohne dieses Wasser ein wertloser und unmoralischer Mensch! Diese Lauheit, die freundliche Billigung des Christentum der Moral wegen beklagte Schleiermacher. Gebildete und freundliche Menschen, aber nicht wirklich interessiert. Wir kommen jederzeit gern mal vorbei, wie wäre es an Weihnachten?

Nicht minder wohlmeinend als die Gesellschaft ist der Staat gegen uns. Er fördert und beehrt uns und wir ihn, wir gehen miteinander in steter Harmonie und schönster Übereinstimmung der Meinungen, bisweilen innigst verbunden wie Gundlach und Göring-Eckardt. Aber schon Schleiermacher hat das Gift gerochen, das darin gärt. Zu viel Wohlwollen der Gesellschaft und des Staates hindert die Kirche das zu machen, was ihr Geschäft ist, nämlich nichts zu produzieren, nichts zu verkaufen, nichts zu verdienen, keine Pläne zu erfüllen und keine Dienstleistungen zu erbringen, sondern dem Menschen Raum zu geben, damit er werde, was er ist; Mensch werden in Beziehung zu seinesgleichen, Teil einer unendlichen Menschheit. Dies zu spüren, dies zu fühlen, das allein macht ihn selig, ja unsterblich.

Meine andächtigen Freunde, ein Leichtes wäre es heute, über so viel Romantik zu spötteln. Aber lächelt nicht zu früh, ich sage euch: Da ist doch was dran! Dass Gott Mensch geworden ist, damit auch wir echte Menschen würden in der lebendigen Beziehung zu allen Menschen, ist nicht das der Satz, der uns am meisten zu Herzen geht, wenn wir an Weihnachten in der Kirche sitzen in hochgestimmter Gemeinschaft mit allen Lauen dieser Stadt? Was will es denn anderes heißen, wenn wir vom ‚gelingenden Leben‘ reden und von der ‚lebendigen Gemeinschaft‘ und wie die Floskeln sonst noch lauten, zu denen die Kanzelredner heute ihre Zuflucht nehmen, weil sie Schleiermachers Fantasie und Begabung ermangeln? Was will all das anderes sagen, als jenes, was Schleiermacher mit seinen Ausdrücken den lauen Zeitgenossen andichtete?

Dass wir glücklich werden, wenn wir in gelingenden Beziehungen leben, und genau dazu befreien uns der Glaube und das Vertrauen zu Gott. Mein Gott, wie banal klingt das und wie floskelhaft, aber ist doch deshalb nicht weniger wahr! Dass unser Glaube, dass Religion schon in diesem Leben etwas austrage und sich bezahlt mache und nicht erst im Jenseits, aber nur, wenn man ihn gerade nicht einer Dienstbarkeit unterwirft, um irgendetwas damit zu erreichen, das ist es, was Schleiermacher entdeckt hat und womit er das Christentum in die Neuzeit nach der Aufklärung führte.

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Meine andächtigen Freunde, der Gemeinde in Laodizäa werden die Leviten gelesen ob ihrer Lauheit. Sie soll Buße tun. Schleiermacher ruft seine Hörer nicht zur Buße auf, wenn er ihren Sinn für Religion erwärmen will. Er sagt sich: Lauheit ist ja nicht Kälte. In der Lauheit wirkt schon ein Quantum Wärme. Die darf ich nicht entweichen lassen, sondern will sie nehmen und weiter erhitzen. Ebenso hat es Paulus in Athen getan. Obwohl er sich über die vielen Götterbilder ärgerte, tadelte er doch die Hörer in seiner Rede an die gebildeten Athener nicht und rief sie nicht zur Buße, sondern lobte ihre Götterfurcht und machte ihnen den Gott bekannt, den sie unwissend schon verehrten.

Anknüpfen an schon Vorhandenes, die Lauheit zur Hitze erwärmen, die Glut wieder anfachen. Aber bis zu welchem Grad können sich gebildete Bürger erwärmen lassen oder gibt es da eine Grenze? Paulus hat diese Grenze erfahren. In Athen ist Paulus gescheitert. Es gelang ihm doch nur bis zu einem gewissen Grade, die gebildeten Athener zu erwärmen. So lange er über die Schöpfung und den Schöpfer redete, so lange er ihnen entwickelte, dass wir alle in Gott leben und weben, in ihm sind und ihn also irgendwie spüren (Apg 17,27f) – man fragt sich, ob Paulus auch schon Schleiermacher gelesen hat -, so lange er ihnen ein beinahe pantheistisches Universum ans Firmament pinselte, folgten ihm die Athener. Als er aber den Vorhang endlich lüftete und plötzlich das Gericht tagte, als er anfing, einen in Szene zu setzen, den Gott zum Richter bestimmt habe und den er von den Toten auferweckt habe, da war die Grenze erreicht. Diese Hitze war mehr als ihr Verstand fassen konnte.

Als sie vom Gericht hörten, fröstelte es den Athener mit einem Male und sie ließen Paulus im Regen stehen. „Lass gut sein, guter Mann, ein andermal mehr davon, vielleicht an Weihnachten.“ (Apg 17,30-32) Und ebenda lässt Schleiermacher auch uns im Regen stehen. Hier kommt auch er mit einer wohlwollenden Bearbeitung unserer Lauheit nicht weiter. Seine Religion ist eine Religion für glückliche Stunden. Nichts gegen glückliche Stunden. Die gönnt uns Gott von Herzen. Aber wenn dem Leben nicht danach ist, im Universum zu schwelgen, weil es in der Krise ist und in der Scheiße sitzt, dann nützt einem der ganze Schleiermacher herzlich wenig.

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Dass wir an dieses Gericht ran müssen, meine bußfertigen Freunde, dass wir das Frösteln davor nur verlieren, wenn wir uns ihm stellen und dass uns, sobald wir dies wagen, sehr warm wird - nicht heiß, von der Glut der Hölle, sondern warm von den Abstrahlungen seiner Liebe, die uns nicht tiefer erreicht als in der Vergebung unserer Sünden, als in diesem ewigen Freispruch und frohen Bestehen-Können vor dem Richterstuhl eines liebenden Christus - das ist es, was Schleiermacher so nicht mehr sagen konnte.
Aber ich will es sagen, heute an seinem Geburtstag, der, wie es das Universum geistvoll gefügt hat, auch der Bußtag ist. Ich will es sagen, weil es mir am Herzen liegt und weil eine Religion der Seligkeit auch mit der größten Begeisterung am Ende doch nur fade ist, wenn sie nicht in gleichem Maße auch eine Religion des Trostes ist.

Wir können mit Schleiermacher durchs Universum wandern und in einem Plasma der Menschheit zu glühen beginnen. Aber wird er mit uns auch nach Gethsemane und Golgatha wandern? Wird er mit uns wachen, wenn wir Angst haben? Wird er bei uns bleiben, wenn wir einen Nackten am Kreuz sehen, der jedes Gottesbewusstsein verloren hat, weil er überhaupt das Bewusstsein verloren hat, der keinen Glauben und keine Hoffnung mehr hat und dem als einziges Gefühl das grausame Gefühl unendlicher Gottverlassenheit geblieben ist? Wird Schleiermacher auch in einem, der nur noch schreien und sterben kann, die Menschheit finden? Wird Schleiermacher erkennen können, was der römische Hauptmann erkannte, dass gerade dieser gottverlassene Mensch Gottes Sohn gewesen ist?

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Liebe Gemeinde, ich vermute, da verlässt uns Schleiermacher. Am Karfreitag bleibt er im Bett und verschläft vielleicht auch Ostern. Aber an Weihnachten, da ist er da. Wir sollten nicht ein Osterchristentum gegen ein Weihnachtschristentum ausspielen. Wir sollten nicht ein existenzielles Christentum gegen ein romantisches ausspielen. Die Entdeckung, dass das Evangelium nicht zuerst auf Werte und Weltdeutungen zielt, sondern dass es zuerst zur Herzenssache wird, bevor es einem zu Kopf steigt und Hände und Füße zur Tat treibt, das ist es, was uns Schleiermacher sagt. Mehr nicht, aber gewiss auch nicht weniger. Amen.


Pfr. Dr. Jürgen Kaiser, Berlin